FIROOZEH MIYANDAR (TEIL 2)

«Ich träume immer von einem normalen Leben»

Im ersten Teil des Porträts berichtete die 38-jährige Physiotherapeutin von der gefährlichen Situation im Iran, von den Gründen für ihre Flucht, von der Ankunft hier, von ihrem politischen Engagement im Land, das eine Zuflucht hätte sein sollen, und von ihren exilpolitischen Aktivitäten. Teil 2 erzählt von den unwürdigen Bedingungen, unter denen abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz leben müssen. Und von Entschlossenheit und Mut.

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in Leben mit Nothilfe. Am 15. Mai 2024 haben wir den zweiten negativen Asylentscheid erhalten. Am 16. Juli 2024 zogen wir ins Rückkehrzentrum Aarwangen um. Dort wohnen die Leute eigentlich temporär, tatsächlich aber jahrelang.

Im Zentrum gibt es viele Kinder und Erwachsene. Aktuell auch viele Jugendliche, die keine Ausbildung machen dürfen. Nur dank den Freiwilligen und dem Verein Gemeinsam unterwegs besuchen sie immerhin Deutschkurse. Mein Sohn ist elf. Wenn die Situation bleibt, wie sie ist, wird er keine Ausbildung machen dürfen. Deshalb muss ich jetzt kämpfen. Im Zentrum ist oft viel los. Wir müssen viel Zeit verschwenden mit Warten. Auf eine freie Waschmaschine, auf einen freien Kochherd. In der Küche gibt es keine Steckdosen, nur im Waschraum. Aktuell ist das Zentrum ganz besetzt, es wohnen zirka hundertzwanzig Leute dort. Jede Familie in einem Zimmer. Wenn eine Familie viele Köpfe hat, wohnen einige Kinder separat. Es gibt Einzelzimmer, ganz kleine, für Alleinstehende.

Die Menschen im Rückkehrzentrum sind psychisch ganz kaputt und leben in Ungewissheit. Das macht die Situation unerträglich. Viele von uns müssen jahrelang in dieser Situation leben.

Einige Leute im Zentrum sind politisch aktiv. Sie lesen, schreiben, sprechen miteinander. Aber auch alle andern versuchen, sich irgendwie zu retten. Stell dir vor, du musst dauernd daran denken, wie du dich und deine Familie aus der Ungewissheit retten kannst. Ein provisorisches Leben, das jahrelang dauern kann. Zermürbend. Viele versuchen, die Situation in ihrem Land, ihre Schwierigkeiten zu beweisen. Man kann sich nicht ausruhen und nur an sich denken, wenn man weiss, dass das Mullahregime wirklich viele Verbrechen begeht. In jedem Moment werden viele getötet, viele gefoltert, viele hingerichtet und viele müssen flüchten, um zu überleben. Und dann wird ihnen nicht geglaubt. Obwohl die UNO, Amnesty International und andere Organisationen unsere Vorwürfe bestätigen!

Wir bekommen im Kanton Bern pro Person und Tag zehn Franken. Einmal hat mir jemand gesagt: «Das kann reichen, weil ihr keine Miete bezahlen müsst, keine Steuern, keinen Strom.» Aber: Wenn mein Kind etwas braucht, muss ich mir lange Zeit überlegen, wie und ob ich das bekommen kann. Eigentlich möchte ich jedoch nicht darüber sprechen, ob die zehn Franken reichen oder nicht. Ich möchte darüber sprechen, warum wir nicht arbeiten dürfen. Wenn wir arbeiten dürfen, können wir unsere Kosten selber übernehmen. Wir könnten konstruktive Personen sein statt Abhängige.

Die Kinder: Es ist klar, dass sie kein schönes Leben haben. Sie sind sehr eingeschränkt. Und was einem Kind wirklich auffällt, ist, dass es nicht reisen kann wie seine Freunde. Sicher nicht ausserhalb des Kantons. Wie soll ich ihm das erklären?

Ich kenne Personen, die im ÖV bestraft wurden. Obschon sie ein gültiges Billett hatten. Aber eben keinen Ausweis. Wir sind illegal. Werde ich in Bern kontrolliert, kann ich meinen Aufenthalt dort gut erklären. Deutschkurs oder so. Aber weiter weg – wie die Anwesenheit erklären? Viele abgewiesene Asylsuchende haben Angst vor Polizeikontrollen.

Leben in der Nothilfe ist vielschichtig schwierig. Wir können keine SIM-Karte kaufen, weil wir keinen Aus-weis haben. Wir konnten noch eine besorgen, als wir den N-Ausweis hatten. Wir brauchen ein Smartphone, um uns zurechtzufinden. Bei Polizeikontrollen zeige ich meinen einzigen Ausweis: den Swisspass.Mit dem N-Ausweis durfte ich ein Konto eröffnen. Wenn meine Karte jetzt dann abgelaufen ist, verliere ich es. Das ist unser Alltag. Er macht unser Leben schwer.

Wie die Atmosphäre im Zentrum beschreiben? Die Leute wollen freundlich sein und sind es auch. Aber die Situation ist schwierig auszuhalten. Viele wissen nicht, ob sie von der Polizei genommen werden. So kann man keine gute Laune haben, die Leute sind gestresst, depressiv, besorgt. Ausserdem haben viele keine Deutschkenntnisse, auch keine Englischkenntnisse. Verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen – die Leute können nicht gut kommunizieren. Viele können auch in der Muttersprache nicht schreiben, und ihre Sprache kommt im Translator nicht vor. Wir müssen dann mit Gebärdensprache kommunizieren.

Sehr häufig werden Leute deportiert. Die Polizei kommt in der Nacht, ohne zu klopfen. Man weiss nicht, wann. Sie führt keine Gespräche, wir andern dürfen unsere Zimmer nicht verlassen. Sie sammeln die Sachen ein und bringen die Familie an einen Bahnhof oder den Flughafen. Ich schlafe nicht gut, bin oft wach. Wenn ich etwas höre, stehe ich sofort auf. Werden Menschen ausgeschafft, sind die andern gestresst, das Herz klopft sehr schnell, man hat das Gefühl, etwas tun zu müssen, helfen zu müssen, aber du kannst nicht.

Fünfzehn, sechzehn Personen kommen für eine Familie: Leute von der Folterverhütungskommission, SEM-Angestellte, Polizei und Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonen. Diese Detailinformationen habe ich im Internet gefunden. Sie kommen und sperren die Gänge, als ob sie einen Terroristen verhaften wollen. Und später suchen die Kinder ihre Freunde und Freundinnen. Wir sagen einfach: «Sie sind gegangen. Sie haben einen besseren Platz gefunden zum Leben.» Aber oft erfahren die Kinder, was passiert ist, und informieren einander. Mein Sohn sagt dann: «Nein, Mama, du hast falsche Nachrichten. Sie sind von der Polizei geholt worden.»

Das Nothilfesystem schadet den Kindern vielschichtig. Es ist unerzählbar, warum die Freunde, Freundinnen eines Kindes von der Polizei geholt wurden. Es ist kaum zu glauben, dass jemand auf der ganzen Welt keinen Platz hat, um zu leben. Das ist für schweizerische Leute unvorstellbar. Wenn ich mit Gott spreche, oder wenn ich mich auf ein Interview vorbereite, denke ich: «Wie kann ich dieses Gefühl, dass ich keinen Platz zum Leben habe auf der Welt, beschreiben?» Wenn das Mullahregime gestürzt wird, flüchten alle Mullahs in andere Ländern und ihr Asylgesuch wird sofort akzeptiert. Sie werden nicht hingerichtet, sie werden nicht gefragt, was sie gemacht haben. Sie dürfen sich irgendwo hinsetzen, das Wetter geniessen. Dabei sind sie richtige Terroristen. Sie foltern viele unschuldige Leute, bis sie sterben, richten Leute hin –und müssen nichts erklären und werden vor kein Gericht gestellt. Sie müssen keine Interviews machen, haben keine langen Wartezeiten, Negativentscheide. Sie werden mit ihrem Geld anerkannt. Aber ihr Geld gehört uns. Es ist unser Blut und unser Leben.

Ein Traum ... Ich versuche oft, weniger zu denken. Je mehr ich denke, desto hoffnungsloser werde ich. Aber ich träume immer von einem normalen Leben. Von einem sicheren Leben, einer sicheren Zukunft für meinen Sohn. Für mich auch, für meinen Mann. Aber ich habe einen noch grösseren Traum: Dass mein Land frei wird! Dass das Mullahregime endlich weggeht. Und dass sie vor ein Gericht gestellt werden. Irgendwann müssen sie Verantwortung übernehmen für ihre Verbrechen.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

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Dies ist der zweite Teil des «Quartier- Chopfs» mit Firoozeh Miyandar ist. Der erste Teil ist in der Ausgabe vom 1. Oktober 2025 erschienen.


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