«Es wäre gut, wenn wir mitgestalten, helfen könnten»
Firoozeh Miyandar wohnt nicht im Nordquartier. Macht nüt. No borders, no nations – eine bedenkenswerte Parole. Auch und gerade in Bezug auf Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenwürde. Insofern ist das Nordquartier überall, genauso wie der Iran oder die «Rückkehrzentren für abgewiesene Asylsuchende», zum Beispiel in Enggistein bei Worb oder in Aarwangen. Wie Firoozeh dort leben muss, ist eine Schande. Ihre Kraft und ihre Ausstrahlung: ein Wunder und ein Glück! Für sie und für uns.

Ich bin achtunddreissig Jahre alt, bin verheiratet und habe einen elfjährigen Sohn. Von Beruf war ich im Iran Physiotherapeutin mit einer eigenen Praxis. Ich hatte eine liebevolle Familie. Wir sind mit der Liebe aufgewachsen, nicht mit der Religion. Mein Vater ist Musiker, er spielt die Tombak, eine persische Trommel, und er singt auch sehr gut. Meine Mutter ist Hausfrau. Ich habe eine Schwester und einen Bruder, sie wohnen momentan im Iran und sind verheiratet. Die Probleme, denen ich begegnet bin, haben sie nicht, weil sie ganz ruhig leben wollten. Das wollte ich auch, aber manchmal kann man nicht still bleiben. Wir versuchten immer, mit Respekt, ruhig und höflich etwas gegen das System zu sagen. Aber sie wollten das nicht hören. Meine Eltern leben in der Stadt Ahvaz im Südwesten des Iran. Sie haben viel erlebt und viel ausgehalten, sie vermissen uns–und sie werden unseretwegen vom iranischen Geheimdienst geplagt. Es geht ihnen nicht gut, auch psychisch.Das ist auch für uns ein Problem. Viele im Iran sind unterdrückt vom Mullah-Regime. Aber es gibt eine Nachrichtenzensur, und ja, die Welt will es auch gar nicht wissen. Kürzlich war ich vis-à-vis vom SEM und wollte Flyer verteilen über die Situation im Iran. Eine SEM-Mitarbeiterin sagte mir, solche Aktionen würden nichts bringen. Ich solle besser ein Neuerwägungsgesuch stellen. Ich: «Wie denn? Ich habe alles gegeben und es wurde nicht geglaubt. Auch nicht, dass mein Vater immer wieder abgeholt wird.» Die Frau: «Wäre gut, wenn Sie Beweise hätten.» Aber das, was geschieht, ist nicht beweisbar. Der Geheimdienst kommt persönlich, es gibt nichts Schriftliches, keine Vorladung. Ich sagte:«Mit unseren Aktionen wollen wir informieren, wie schrecklich die Situation im Iran ist.» Sie: «Trotzdem bringt das nichts.» Ich: «Vielleicht wenigstens in Ihren Gefühlen und Herzen.»
Wir Iranerinnen und Iraner, die schon lange da sind, viele seit Jahren in den Rückkehrzentren, treffen einander und machen Kundgebungen beim SEM, denn wir werden nicht gesehen. Wir wollen informieren, ganz legal und polizeilich bewilligt. Wir wollen, dass das Mullah-Regime gestürzt wird. Es ist nicht reparierbar.
Unsere Fälle werden kaum geglaubt. Wir haben das Gefühl, dass unsere Unterlagen nicht angeschaut werden. Wenn wir flüchten müssen, wissen wir nicht, welche Unterlagen im Asylland verlangt werden.
Wie alle, die das Mullah-Regime kritisieren, wurden wir bedroht. Aber wir blieben. Trotz aller Drohungen und Verleumdungen. Ich kann jetzt an diese Dinge denken, ohne zu weinen. Heute war ich bei der Traumatherapeutin. Manchmal weine ich sehr viel und gehe nachher in einen Park. Wir sind Sufis. Der Sufismus ist eine mystische Denkweise, eigentlich keine Religion. Das SEM sagte uns, dass die iranische Regierung kein Problem mit der Sufi-Minderheit habe. Tatsächlich aber gibt es im Iran grosse Probleme zwischen Andersdenkenden und dem Mullah- Regime. Das, was es anbietet als Religion oder Politik, ist für uns falsch. Wir sagen nicht fünfmal am Tag «Hallo» zu Gott. Für uns ist Gott immer da. Für sie ist Religion Politik und Politik Religion. Uns lehrt der Sufismus, im Alltag aktiv und konstruktiv zu sein. Hier in der Schweiz sieht man, wie frei die Leute sich ausdrücken können (wir sprechen jetzt nicht darüber, wie wirksam das ist, aber sie dürfen widersprechen). Im Iran ist es nicht so. Wer die Religion der Mullahs ablehnt, lehnt diese ab. Oder die Schikanen, wenn jemand zum Beispiel nur für einen Tag in den Irak reist. Stell dir vor, du kaufst ein Ticket und gehst legal einen Tag nach Frankreich. Du kommst zurück – und wirst von deiner Regierung beschuldigt: «Aha, du hast die Reise gemacht, weil du in dieser oder jener Gruppe Mitgliedschaft hast.» Du bekommst keine Gelegenheit, zu berichtigen. Eine Verleumdung folgt der anderen. So funktioniert das Unterdrückungssystem im Mullah-Regime.
Es wurde klar, wir mussten den Iran verlassen. Es war Coronazeit, unser Sohnwar acht Jahre alt, wir konnten nicht zu Fuss gehen. Fast alle Botschaften waren zu, aber wir erhielten einen Termin auf der Schweizer Botschaft. Was, wenn wir nicht angenommen würden? Aber unsere Unterlagen genügten, ich hatte genug Geld auf dem Konto, wir erhielten ein Visum. Später haben wir in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt. Im Bundesasylzentrum fing ich an, Deutsch zu lernen. Am Tag hatten wir dort Internet, in der Nacht nicht. Inzwischen lerne ich Deutsch auch in der Fachsprache Physiotherapie.
Ich bin Co-Leiterinder Kommission Kinderrechte des Flüchtlingsparlaments. Dieses hält eine Session pro Jahr ab, dieses Jahr war die fünfte. Wir Geflüchteten versuchen mitzubestimmen. Wir kennen unsere Lebensrealität am besten, wir wissen, was wir erlebt haben und was wir brauchen. Unsere Informationen sind schneller als die Länderanalysen des SEM. Die Behörden entscheiden für die Geflüchteten, aber ohne Geflüchtete. Eswäre gut, wenn wir mitgestalten, helfen könnten. Es gibt im Flüchtlingsparlament mehrere Kommissionen. Wir konzentrieren uns auf die Kinder in der Nothilfe und auf die UMAS (unbegleitete minderjährige Asylsuchende). Wir versuchen, für ihre Schwierigkeiten und Herausforderungen Lösungen zu finden. Wir führen konstruktive Diskussionen mit Politikerinnen und Politikern. Wir treffen uns mit Parteien. Die SVP, die Mitte, die FDP und die GLP haben unsere Einladung noch nie angenommen, sie antworten oft auch nicht auf unsere E-Mails und Anfragen. SP, Grüne und EVP waren dabei.
Unser Asylgesuch wurde abgelehnt. Wie auch unsere Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht. In diesem Fall muss man die Schweiz verlassen. Aber wohin? Wenn wir in andere EU-Länder gehen, werden wir wegen des Dublin-Abkommens hierher zurückgeschickt. Wenn wir in den Iran zurückgehen, werden wir gefoltert und hingerichtet.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi Teil 2 des Porträts folgt in der nächsten Ausgabe.