«Ich kann nicht einfach zuschauen»
Im ersten Teil seines Berichts erzählte Remigio Funiciello von seiner Kindheit in Süditalien, wie er mit sechzehn ungefragt in die Schweiz geschickt wurde, um in einem Restaurant zu arbeiten. «Heute kann ich sagen: Es war eine Befreiung! Ich kam aus der Armut in eine neue Welt!» Er machte Kurse, kam zu «Mamma WIFAG», reiste mit seiner Frau durch Südamerika. Als ein Nicaragua-Projekt mit dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk nicht zustande kam, träumten Remigio und seine Frau enttäuscht vom Auswandern.

In der Schweiz konnte ich viele Dinge machen, die meine Freunde in Italien nie konnten. Etwas lernen, die Arbeit – für mich war die Schweiz ein guter Ort, eine Befreiung! Aber nun wollte ich weg, weil ich enttäuscht war wegen der Absage. Meine Frau und ich wollten zusammen nach Sardinien gehen.
Im Juli 92 waren wir mit der kleinen Tamara dort in den Ferien. Da ging meine Sandale kaputt. In Bosa und Umgebung, wo auch unser Dorf liegt, leben zehntausend Personen – ohne Schuhmacher! Ich sagte: «Nächstes Jahr können wir hierher zügeln!» Meine Frau und mein Schwiegervater – er war mit uns dort – schauten komisch. «Was machen? » «Ganz einfach: Eine Schuhmacherei eröffnen!» Ich kann mit Maschinen arbeiten und ging ein halbes Jahr langam Abend nach der WIFAG zu Amadeo Iantorno hier im Breitsch lernen, Materialkunde. Wir in Italien sind ein paese dei mafiosi. Ich konnte ganz in der Nähe unseres sardischen Zuhauses sozusagen neue Maschinen kaufen, die ein Carabiniere dort hingestellt hatte, um mit einem Scheingeschäft die Rente für seine Frau zu erschleichen. Die ersten paar Monate arbeitete ich hinter verschlossener Tür, ich musste in Ruhe Erfahrungen sammeln. Dann lernte ich das ganze Dorf kennen. «Endlich kommt ein Schuhmacher – ein Heiliger!» Ökonomisch ging es auch ganz gut, wir hatten ja Reserve aus der Schweiz. Irgendwann dachte ich: «Was können Tamara und unser zweites Kind Leandro hier machen? » Es gab keine Garantie für ihre Ausbildung. Tamara war huere guet in der Schule, aber für ein Studiumin Italien hätte das Geld nicht gereicht. So sagten wir nach neun Jahren Sardinien: «Wir müssen wieder gehen. » Ich schrieb Mamma WIFAG und sie sagte: «Vieni, vieni!» Ja, «Mamma WIFAG» ist kein Witz! Ich musste in einem eineinhalbjährigen Kurs die computergesteuerten Maschinen kennenlernen. Ich konnte bezahlte Überstunden machen, die WIFAG unterstützte mich auch da. Zuerst wohnten wir eineinhalb Jahre in Neuenegg. Meine Kinder hatten das gleiche Problem, das ich gehabt hatte: Sie hatten vieles nie gesehen. Als Leandro die erste Rolltreppe sah, hüpfte er vor Freude darauf herum, bis sie abstellte. Ich dachte, in einem Dorf können die Kinder sich langsam integrieren. Nachher fanden wir eine Wohnung an der Haldenstrasse, unter der Autobahnbrücke – fantastico! Die WIFAG war ganz in der Nähe! Die Kinder integrierten sich gut.
Einmal sah ich vor dem Coop Tom Klöti. Er sammelte Unterschriften für den Breitschträff. Ich nahm Unterschriftenbogen mit. Ja, der Quartiertreff muss bleiben! Ich brachte die Bogen ausgefüllt zurück und damit begann meine Beziehung mit dem Breitschträff.
Vor sechzehn Jahren kam die WIFAG in die Krise und schloss. Ich war in der Unia und in der Betriebskommission und wir hatten gesehen, da kommt etwas. Ich hatte Angst. Wer will dich nochmit sechsundfünfzig? Mamma WIFAG starb, und wenn ein Fisch stirbt, kommen die Krähen… Ich bewarb mich bei Bieri Pumpen in Köniz. In dem Alter eine neue Arbeit – da ist einiges schwierig. Da kam der Sozialplan der WIFAG. Der war für mich sehr attraktiv. Mamma WIFAG war wirklich eine Mamma! Bei Bieri Pumpen sagten sie: «Nimm den Sozialplan, auch wenn du bei uns unterschrieben hast!» Viele ehemalige Kollegen wurden depressiv, weil sie keine Beschäftigung mehr hatten. Ich habe immer etwas gemacht. Früher für Nicaragua, jetzt für Palästina. Und für Libera Terra. Ich bin als solidarischer Typ geboren, glaube ich.
Seit elf Jahren bin ich im Breitschträff für die Infrastruktur verantwortlich. Und ich helfe Organisieren. Politisches, Ausstellungen. Carlo von der Weinhandlung Cantina Borgovecchio brachte seinen Libera-Terra- Wein. Das Projekt Libera Terra interessiert mich wirklich! Wir können mit dem Verkauf von Landwirtschaftsprodukten Familien und den Biolandbau in Italien unterstützen. Die Bewegung gibt es seit dreissig Jahren. Ihr Ziel ist dignità, Würde für dieMenschen, die den ganzen Tag arbeiten. In der Covid-Zeit ist die Mafia feiss geworden, viele Menschen sind in ihre Hände geraten, weil sie kein Geld hatten und vom Staat keines bekamen. Die Bewegungen Libera und Libera Terra wollen den Menschen Stolz geben, in der Legalität.
Will ich meinen Landsleuten helfen, muss ich ihre Produkte kaufen, ihre Arbeitunterstützen – dasmacht mir huere Fröid! An einer Flasche Wein ist die Arbeit vieler Menschen beteiligt: Die Produktion, die Flasche, die Etikette, der Zapfen, der Transport, der Keller, Chemiker und Chemikerinnen. Und die Bioproduktion ist auch in Italien sehr wichtig! Wir kontrollieren unsere Produkte regelmässig, hier in der Schweiz! Und jeden ersten Samstag im Monat haben wir unsern Märitstand beim Breitschträff. Die Einnahmen spenden wir z.B. medico international schweiz oder einem Antimafia-Museum in Capaci.
Es ist wichtig für meine Seele, dass ich etwas mache. Ich kann nicht einfach zuschauen und weiteressen, ich bin so geboren. Dass die Leute im Quartier mich mögen, das ist mein Lohn. Der Rest interessiert mich nicht.
Bis letztes Jahr hatte ich eine Wohnung von Mamma WIFAG. Die ist jetzt ein wenig alt geworden. Ich habe 1000 Franken bezahlt, nach der Renovation wird sie sicher 1600 kosten. Jetzt wohne ich an der Schärerstrasse. Bern? Für mich der Breitenrain und die Lorraine, der Rest ist ein anderer Kanton. Wenn ich über die Brücken komme, sage ich: «Endlich zu Hause!»
Als ich in der «Insel» war, kamen die Ärzte und Ärztinnen in unser Zimmer. «Herr Meier, was machen Sie in einer Krise?» «Ich nehme ein Buch und lese.» «Und Sie, Herr Grossenbacher? » «Ich gehe an der Aare spazieren.» Einer geht Schmetterlinge fotografieren. «Und Sie, Herr Funiciello? » «Wollen Sie die Wahrheit oder eine Lüge?» «Die Wahrheit.» «Wenn es mir schlecht geht, gehe ich in den Breitschträff und schaue hinaus. Ich schaue die Leute an und es geht mir gut.» Arzt: «Männer oder Frauen?» «Beide!»
Der Breitschträff ist wirklich gut. Wir machen viel. Es passiert viel Interessantes. – Er ist im Moment mein Leben.
Ein Traum… Wenn ich zum Beispiel an Palästina denke, bekomme ich Tränen in den Augen. Mi sento impotente. Es ist inakzeptabel! Wie auf Kinder und Frauen, die Essen holen, geschossen wird! Ich weiss, was Hunger ist, ich habe ihn selber erlebt, als ich ein Kind war.
Mein Traum ist ein bisschen mehr Frieden in der Welt. Wir investieren Geld in Waffen statt in die Lösung der Probleme oder in die Bekämpfung der Armut.
Ich habe eine Gaza-Suppe gekocht. Das macht mich stolz! Ein grosser Topf Linsensuppe und eine Kollektekasse. Ohne Reden, ohne Musik. Zweitausend Franken habe ich eingenommen und spenden können.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
Das ist der zweite Teil des «Quartier- Chopfs» mit Remigio Funiciello. Der erste Teil ist in der Ausgabe vom 6. August 2025 erschienen.