REMIGIO FUNICIELLO

«Ich habe in meinem Leben gute Leute getroffen»

Remigio Funiciello – ein wuschelköpfiger Mann, dem frau sein Alter nicht gibt. Er legt die Notizen beiseite, er weiss auch so, was er erzählen will, was er zu erzählen hat. Ein Mensch mit viel Herzblut und Engagement. Und rarer, ge- lebter Solidarität.

p10157445_afdn_07_2025_high 19-3059_rgb-min.jpg

Ich bin in der Provinz Caserta nördlich von Napoli auf die Welt gekommen. Als zwölftes von dreizehn Kindern. Wir waren arm, ich bin acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Mein Vater war Schuhmacher und wir hatten eine kleine Landwirtschaft zum Überleben.

 

Nach fünf Jahren Schule sagte mein Vater, ich solle jetzt arbeiten. Ich war «huerefrustiert», ich war der Beste in meiner Klasse. Die Lehrer gingen zum Vater: «Er muss weiter in die Schule!» Aber Vater sagte: «Nein, er muss arbeiten gehen!» So wurde ich mit zwölf Maurer-Handlanger. Es war Kinderarbeit! Ich war gern in die Schule gegangen, und nun war ich isoliert, ich gehörte nicht mehr zum Kuchen und konnte am Abend meine Erfahrungen nicht mit meinen Freunden teilen. Nach vier Jahren entschied mein Vater, ohne mich zu fragen, dass ich in die Schweiz muss, nach Thun, mein Bruder war dort. Mein Koffer war gepackt, so ging ich. Mit null Lebenserfahrung. Heute kann ich sagen: Es war eine Befreiung! Ich kam aus der Armut in eine neue Welt! Ich arbeitete im Restaurant, konnte dort essen, meine Kleider wurden gewaschen, ich hatte ein Zimmer. Und eine Dusche! Meine Arbeit war Tellerwaschen. Und die Strasse putzen, 1970, wo es bis in den Mai schneite! Jeden Morgen «dä huere Schnee schufle!» Ich beschloss, etwas anderes zu machen. Ich ging nach Schüpfen, auch in ein Restaurant. Dort gab es viele Bauarbeiter, Italiener und Spanier, ich konnte kochen und abwaschen. Nach einem Jahr, ich war fast neunzehn, sagte ich: «Ich will nicht das ganze Leben Teller waschen!» Ich ging in die Schreinerei Stuber in Schüpfen. Damit fing ein neues Kapitel in meinem Leben an. Ich war Handlanger bei einem italienischen Schreiner und war fasziniert von ihm. Er fragte mich eines Tages: «Willst du immer Handlanger bleiben? Willst du nicht etwas lernen?» Ich war ja noch ein «Bébéli» und dachte: «Was kann ich machen?» Der Kollege gab mir eine Adresse in Bern, Abendkurse bei Cisap (Centro Italo-Svizzero Formazione Professionale). Das war sehr interessant, der Kurs war unterstützt von der Gewerkschaft SMUV. Viermal pro Woche, von sieben bis zehn Uhr abends plus Praktikum am Samstag.

Ich wollte Schreiner werden. Der Direktor sagte, leider gebe es nur Kurse für mechanische Berufe. Also dachte ich, da gehe ich nicht hin. Aber ich habe in meinem Leben immer gute Leute getroffen! Der Direktor provozierte mich: «So gang wider ga Handlanger mache!» Der Schreiner in Schüpfen sagte: «Der Direktor hat recht!» Also schrieb ich mich für den recht einfachen Kurs «Dreher» ein, ich kannte ja meine Grenzen. Eine Frustration war: Ich war der Einzige, der nur fünf Jahre in die Schule gegangen war. Ich dachte: «Ich habe keine Chance.» Aber: «I wott!» Mit viel Kraft und Unterstützung durch die Lehrer, die fast alle Arbeiter waren und die Kurse ehrenamtlich leiteten, gelang es mir. Am Anfang waren wir über zwanzig, zuletzt nur noch sechs. Ich habe nie gefehlt, das war meine Revanche für mein bisheriges Leben!

1974 fing ich in der WIFAG an, sammelte Erfahrungen als Dreher und lernte viele gute Leute kennen. Ich erlebte Konkurrenz – aber keinen Rassismus! Die Schweizer erhielten mehr Lohn als wir und waren sauer, dass wir für weniger arbeiteten, sie glaubten, das würde ihre Löhne drücken.

In Schüpfen hatte ich meine zukünftige Ex-Frau kennengelernt, eine Schweizerin. In der WIFAG arbeiteten neben mir zwei Kollegen aus Uruguay, Angehörige der Tupamaros. Sie hatten einen riesigen Einfluss auf mich. Ich hörte sie jeden Tag reden. Resultat: Ich habe in der Schweiz Spanisch gelernt, aber nicht Deutsch (lacht). Und sie haben mich auch politisch beeinflusst. Ende der siebziger Jahre ging ich mit ihnen nach Kuba, als es dort noch keinen freien Tourismus gab. Aber ich blieb skeptisch. Mario, einer der beiden, sagte zu mir, ich müsse mal durch ganz Südamerika reisen. Mamma WIFAG war einfach gut, Spitze! Ich verlangte ein Jahr unbezahlten Urlaub für eine Südamerikareise. Der Personalchef schaute mich mit grossen Augen an. «Was willst du dort?» «Ich will schauen, was ist wahr und was ist nicht wahr.» – Ich war dann überall in Südamerika. Mit meiner Exfrau zusammen. Tourismus interessierte mich nicht. Ich wollte wissen, wie das Leben in einer Militärdiktatur ist. Eine so naive Frage! Als wir von Lima aus nach Chile unterwegs waren, holte uns das Militär aus dem Bus, ich als italienischer «hijo de puta» wurde mit der Waffe am Kopf gefragt, was ich hier wolle. Sie liessen mich dann gehen, aber wenn du so etwas erlebt hast, bist du ein anderer Mensch, obwohl manche das nicht glauben. Meine Frau als Schweizerin hatte weniger Probleme. Man darf nicht vergessen, 1962 hatte es ein Fussballspiel Chile gegen Italien gegeben und ich war jetzt der italiensche Sauhund. Ich wollte nach Valparaiso, wo Constantin Costa-Gavras noch unter Allende mit Yves Montant einen Film über die Militärdiktatur in Uruguay gedreht hatte. In dieses Land gingen wir auch noch, es war sehr interessant. Es war eine Erfahrung, die ich nie vergesse. Immer Militärkontrollen. Ich dachte nun, Kuba sei ein Paradies im Vergleich.

p10157445_afdn_07_2025_high 19-2060_rgb-min.jpg
p10157445_afdn_07_2025_high 19-1061_rgb-min.jpg

In Italien hatte ich null Erfahrung in Politik gehabt. Es herrschten reiner Analphabetismus und Armut im Dorf, die Leute waren nicht politisch. Mein Vater hatte faschistisch gewählt, weil Mussolini für kinderreiche Familien bezahlte. Besser er hätte weniger Kinder gehabt … Von Mario habe ich gelernt, dass die Welt nicht nur Italien ist, sie ist viel grösser. Denkst du, in meinem Dorf hat jemand von Allende geredet? Da waren der Arzt und der Apotheker die presidente. Zurück in die Schweiz, zurück zu Mamma WIFAG, erhielt ich mehr Lohn, ich war ja ein guter Dreher. Und dann kam die Revolution in Nicaragua! Zusammen mit Jöhnu Schmocker gründeten wir die Brigada Latino Bernesa. Ich sagte: «Du Jöhnu, mir müesse öppis mache!» Wir haben Geld gesammelt und nach Nicaragua gebracht, für verschiedene Kinderprojekte. Ich war der einzige Polymech in der Brigada. Und so bekam ich einen Telefonanruf vom SAH: wenn ich wolle, könne ich in ein Wasserversorgungsprojekt in Nica arbeiten gehen. Ich war sehr stolz. Drei Wochen vor der Abreise kam die Absage. Es sei kein Geld mehr da für das Projekt. Ich war enttäuscht. Ich hatte die Arbeit gekündigt. Und die Wohnung auch. Ich ging sofort zu Mamma WIFAG. Und erhielt wieder Arbeit von ihr!

Aber wir waren enttäuscht! Ja, ich war am Boden. Da kam ein Sarde zu mir und sagte: «So, Remigio, kauf ein Stück Land in Sardinien und baue etwas auf für dich und gegen die Frustration!» Ich ging in den Ferien hin, konnte ein Stück Land kaufen und wir bauten ein Häuschen. Wir dachten, dass wir auswandern wollen. Da wurde meine Frau schwanger. Wir waren 38 und 37, wir hatten das nicht erwartet. Tamara kam auf die Welt. Und ich hatte immer noch im Kopf: «Ich will weg aus der Schweiz.»

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

Das ist der erste Teil des «Quartier- Chopfs» mit Remigio Funiciello. Der zweite folgt in der kommenden Ausgabe vom 27. August 2025.

BEX_Banner_Anzeiger_Nordquartier_200x748px1.jpg