«Was brauche ich eigentlich zum Leben?»
Er wirkt ruhig. Und gleichzeitig aufmerksam. Seine Gedanken, dass Ortswechsel auch zu Hause möglich ist, wenn nämlich die Umgebung sich verwandelt, sind überraschend, interessant und – gerade im Nordquartier – hochaktuell.
Ich bin Quartierarbeiter. Das Thema Nachbarschaft ist faszinierend. Ich wohne seit fünfzehn Jahren an der Güterstrasse im Holligenquartier. Zuerst gab es in der Umgebung die Kehrichtverbrennung, dann eine Zwischennutzung, jetzt eine Genossenschaftssiedlung. Immer der gleiche Ort und ringsum verändert sich alles – wobei die alten Geschichten weiter mitschwingen. Neue Verkehrsverbindungen, Einkaufsmöglichkeiten entstehen. Seit der Zwischennutzung bin ich im Quartier angekommen und weniger stadtorientiert.
Der Link zum Breitsch: Die Stadtentwicklungsprojekte WIFAG, Wankdorffeldstrasse, Wankdorfcity 3. Das Quartier wird sich verändern. Spannend: In verschiedenen Phasen vor Ort sein und beobachten. Welche neuen Bezüge sind möglich? Wie mich hineingeben? Die Frage nach der Identität. Sie bildet man laufend, in der Beziehung zur physischen Umwelt und zu Menschen. Etwas geht verloren, etwas Neues kommt. Was wäre das Wohnumfeld meiner Wünsche? Was die ideale Nachbarschaft, wie mein Wunschverhältnis von wohnen und arbeiten? Was ist verhandelbar? Es gibt natürlich Machtverhältnisse. Die Eigentümerschaft kann im Rahmen des Gesetzes tun und lassen, was sie will. Aber es gibt Grauzonen, mindestens auf Zeit, die es auszuloten gilt. Partizipation gelingt meiner Erfahrung nach vor allem durch Ausprobieren. Erfahrungen sammeln und einbringen. Uns die Mitwirkung nicht vermiesen lassen! Uns nicht nur in den Zwischennutzungen, sondern auch in den Umsetzungsphasen beteiligen!
Ich bin 1986 geboren. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich mit meinen Eltern und dem kleinen Bruder in Hubersdorf bei Solothurn. Dann zügelten wir nach Hägendorf bei Olten, wo ich die Primar- und Sekundarschule besuchte. Danach ging ich in Olten auf die Kanti. Meine Kindheit war nicht so spektakulär. Ein- bis zweimal Pfadischnuppern, aber der Brüetsch konnte zu Hause «Turtles» schauen und ich musste in die Pfadi. Später ging ich schutten, zwar auch am Samstagnachmittag, aber äs hett meh gfägt. Ich war eher ein Aussenseitertyp, gehörte nicht zu den Coolen. Vielleicht weil ich seit dem Kindergarten eine Brille trug, nicht so grosse Sprüche machte, eher zurückhaltend und nicht tonangebend war. Vielleicht hat mich das für das Thema «Ausgeschlossensein» sensibilisiert. In der Kanti hatte ich dann zum ersten Mal einen Freundeskreis, wo man einander schätzte. «Äs isch guet, wie me isch.»
Schon früh interessierte ich mich für Atlasse und Lexika, verschiedene Länder und Hauptstädte, und auch für die Frage: Warum gibt es Ungleichheiten? Jean Ziegler und sein Buch «Die neuen Herrscher der Welt», Globalisierungsthemen, Gerechtigkeit.
Das Dörfliche band mich nicht besonders. Und so war ich froh, nach Olten und dann nach Bern zum Studium zu kommen. In den Ferien arbeitete ich im Coop-Verteilzentrum als Kommissionierer. Den ganzen Tag mit dem Wägeli durch die Gestelle und die Waren zusammentragen. Manchmal zogen die Tage sich endlos hin, besonders vor Weihnachten. Gerade als ich aufhörte, kamen die Headsets, die Dauerkommunikation mit der Maschine. Die Menschen werden auf ihre Arbeit reduziert. Es war eine wichtige Erfahrung für mich und brachte mir Respekt ein für die Leute, die diese Arbeit machen.
Dass ich mich nicht für den Zivildienst entschied, war ein biografischer Fehlentscheid. Ich wollte eigentlich zum Militär, stellte mir das als eine Art Pfadilager vor. Dann brach ich das Bein beim Fussball und kam zum Zivilschutz. Im Zivildienst hätte ich spannendere Erfahrungen sammeln können und konkrete Dinge anpacken.
Ich war dann einen Monat mit dem Interrail unterwegs. Und fing in Bern ein Volkswirtschaftsstudium an. Doch die ökonomische Eigennutzsicht auf die Welt war mir zu doktrinär, ich wechselte zur Soziologie. Weil es ein wissenschaftlicher Fakt ist, dass Menschen soziale Wesen sind, sich ihr Selbstverständnis durch soziale Beziehungen herausbildet. Ghandi und Martin Luther King machten mir viel Mut. Die Bestätigung, dass eigentlich alles in Bewegung ist und die Verhältnisse nicht gottgegeben, sondern selbstgemacht und damit veränderbar sind.
An der Uni Bern war damals einiges im Umbruch. Die Einführung des Bachelors/Masters. Und der Kampf für den Erhalt unserer Soziologieprofessur. Ich war inzwischen Hilfsassistent, brauchte nicht mehr im Verteillager zu arbeiten und konnte mich von den Eltern loslösen. Ich studierte ein Semester in Jena. Das war spannend. Ein inspirierendes Umfeld. Feste.
In Berlin und Leipzig sah ich, wie geschichtliche Ereignisse dazu führen können, dass Leute massiv wegziehen – und neue zuziehen. Bewegungen in beide Richtungen. 2013 schloss ich mein Studium ab. Ich fragte Décroissance Bern, ob sie mir ein Teilpensum mit Grundeinkommen bezahlen können. Ich schaffte mir also selber einen Job und auch diese politische Arbeit war prägend. Was brauche ich eigentlich zum Leben? Krankenkasse, essen, wohnen – da ich gesund bin und in einer WG lebe, halten sich die Ausgaben im Rahmen. 1800 Franken reichten.
Ich war politischer Sekretär von attac und Décroissance. Und merkte: Ich möchte nicht immer mit den Gleichen am Tisch etwas aushecken, sondern mit den Leuten selber an ihren Lebensumständen arbeiten. Idealerweise Leute zusammenbringen und befähigen, um eine gerechtere Welt mindestens in Ansätzen zu schaffen. Die Quartierarbeit will eigentlich genau das. Beraten und begleiten im Kleinen und Zusammenarbeit mit der Stadt und andern Organisationen im Grössern. 2018 fing ich an, soziokulturelle Animation zu studieren, arbeitete als Mitarbeiter in Ausbildung bei der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit VBG im Gäbelbach, dann schloss ich ab und bin seit Ende 2023 zu vierzig bis fünfzig Prozent im Nordquartier tätig. Daneben ist Raum für ehrenamtliche Tätigkeiten in meiner Nachbarschaft und in Vereinen, für punktuelle Jobs und Engagements, Lehraufträge an der Berner Fachhochschule, Stadtführungen mit StattLand, Fachmittelschul-Prüfungen abnehmen.
Ich bevorzuge das Eintauchen ins Lokale mit seiner Vielfalt an Menschen und Dingen vor einem Massentourismus, wo Städte und Orte nur noch Kulisse sind. Me büglet, büglet, büglet bis an die Grenze – und dann eine Woche irgendwohin zur Erholung. Andere Welten kennenlernen ist sicher spannend. Aber auch im Lokalen könnte ein neuer Blick, Überraschendes liegen. Und vielleicht ist in der Provinz, abseits der Metropolen, wo alles für die Touristen hergerichtet ist, das Leben manchmal spürbarer.
In der Lorraine, meinem Schwerpunktgebiet, entsteht ein neuer Quartiertreff. Eine Umfrage in Zusammenarbeit mit dem Verein Lääbigi Lorraine VLL ergab als Hauptanliegen im Quartier: steigende Mieten, Verkehrspolitik, die Sicherheit des Schulwegs. Die Begegnungszone Lorrainestrasse – zieht der Leist die Beschwerde weiter? Wie kann Leben auf die Strasse getragen werden? Ist die Lorraine altersgerecht?
Weitere Fragen aus meinem Alltag: Aufenthaltsstatus, Anmeldungen Tagesschule, Freizeitangebote für Kinder, gerade im Winter. Sozialversicherungsfragen. Immer wieder indirekt auch Rassismus.
Unser A und O in der Quartierarbeit: Wissen, was die Leute beschäftigt, sie unterstützen und zusammenbringen, auch mit Fachstellen und Organisationen. Informationen sammeln, gemeinsam bearbeiten, auch politisch Strukturen aufbauen, in denen die Leute sichtbar werden. Wenn alle nur für sich kämpfen, gibt es vielleicht Einzellösungen, aber die Themen brodeln weiter.
Ein Traum. Gerade in Anbetracht der Weltlage. In der Reitschule lief ein Filmzyklus «psychedelic visions» über die Rolle von psychoaktiven Substanzen bei der Verbesserung unserer Verbindung mit der Welt. Unsere Träume haben da ebenfalls eine grosse Bedeutung. Mehr Raum zum Träumen! Selbst die Steine an der Sense sind nicht einfach wertlos, nutzlos. Ich kann mit ihnen in Verbindung treten. Weg kommen von der Entfremdung durch die Reizüberflutung von aussen, und uns stattdessen bewusst Zeit nehmen für die Verbundenheit mit unserer Mitwelt.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi