KIRCHEN BERN-NORD

Verstaubtes Image, innovative Köpfe

Die Kirche ist viel mehr als ein Treffpunkt für Gläubige. Ihr Angebot ist gross, niederschwellig und für alle da. Sie ist ein oft unterschätzter Player im Quartierleben. Weder muss man einer Konfession angehören noch muss man mit der Kirche etwas zu tun haben, um an den Aktivitäten teilzuhaben.

Text: Claudia Langenegger.
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Bilder: cla & zVg.

Sonntags läuten sie zum Gottesdienst und gegen Weihnachten gibts Kerzenziehen – doch das ist längst nicht alles, was die Kirchen im Nordquartier bieten. Ihr Angebot ist reich: Zu Heiligabend laden sie zum Essen und den ganzen Rest des Jahres bespielen sie ihre Räumlichkeiten mit Aktivitäten wie Tanzen, Malen mit Kindern, Mittagstisch, Spielnachmittagen, Seniorentreffen und vielem mehr.

Die Markuskirche an der Tellstrasse wurde vor zwei Jahren mit dem Pop-up «Zur Markuskirche» sogar stadtbekannt. Der kirchliche Betrieb war damals in die Johanneskirche an der Wylerstrasse 5 verlegt worden, weil die Markuskirche nach dem Pop-up-Betrieb hätte saniert werden sollen. Doch es gab eine Beschwerde, die bis in die zweite Instanz gezogen wurde – der Umbau verzögerte sich und so verlängerte sich die Zwischennutzung.

Statt die Räumlichkeiten leer stehen zu lassen, setzte die reformierte Kirchgemeinde auf neuartige Projekte. Es gab Jubiläumsfeiern, Barbetrieb, das Theaterfestival «auawirleben», Yoga, Partys, Filmabende, ein Unterrichtsprojekt von Architekturstudierenden und vieles mehr. Bald ist Schluss damit: Die Tore schliessen sich, am 18. Dezember lädt die Bimbam-Bar zum letzten Mal zum Umtrunk, im Januar 2026 fahren die Bauwagen auf: Die Markuskirche wird endlich renoviert.

«Wir hatten eine ausserordentliche Situation – doch so ungewöhnlich war diese eigentlich auch nicht: Jede Kirche und jedes Kirchgemeindehaus ist da, um benutzt zu werden», sagt Tobias Rentsch, reformierter Pfarrer der Kirchgemeinde Bern Nord.

«Wir wollten hier ganz explizit Dinge ausprobieren. Das Schöne daran: Ich würde alles weiterführen, was hier stattfand. Es ist Aufgabe der Kirche, Gottesdienste zu feiern – aber nicht nur, sondern auch neugierig darauf zu sein, was auf die Kirche zukommt – ob das nun ein Tätowierfestival oder ein Jubiläumsfest des lokalen Fussballclubs ist.»

Ein Spielfeld, um zukünftige Nutzungen zu erproben, ist toll – doch was haben diese Aktivitäten mit der Kirche zu tun? «Ich sehe vor allem die Gemeinsamkeiten», sagt Tobias Rentsch. «Eine Beiz passt nur auf den ersten Blick nicht in eine Kirche, weil es allenfalls ein traditionelles Bild sprengt. Aber: Gemeinschaft zu pflegen und dafür zu sorgen, dass die Menschen zusammenkommen, das ist typisch für die Kirche.»

Die Quartierbewohnenden sollen sich auch weiterhin aktiv beteiligen. «Sie sollen mit ihren Ideen auch in Zukunft zu uns kommen», so Tobias Rentsch.

«Wir sind da, wir hören zu»

In der Kirchgemeinde Bern-Nord ist viel los – auch ohne Markuskirche. Andreas Abebe, langjähriger Pfarrer an der Markuskirche und jetzt an der Johanneskirche, der zweiten reformierten Kirche im Nordquartier, sagt dazu: «Wir sind als Landeskirche Teil der Gesellschaft, wir wollen inklusiv sein, ein Treffpunkt und eine Anlaufstelle.»

Als Pfarrer steht er sonntags zwar immer wieder auf der Kanzel, er ist aber auch kulturell aktiv – jeden Winter organisiert er in der Johanneskirche eine Filmreihe. «Einen Film von der Kirchenbank anstatt aus dem Kinoplüsch zu betrachten, löst andere Fragen und Emotionen aus und führt zu anderen Gesprächen», beobachtet er seit über 20 Jahren. Der aktuelle Zyklus heisst «schwarz-weiss»: Bis am 3. April flimmert jeden zweiten Freitagabend ein Filmklassiker über die Grossleinwand.

Ein wichtiger Teil seiner Tätigkeit ist die Seelsorge – niederschwellig und individuell: «Es kann sein, dass ich mit einem Quartierbewohner auf einen Spaziergang gehe, dass ich die Menschen zu Hause besuche und sie in schwierigen Lebenssituationen begleite», erklärt Andreas Abebe. «Beispielsweise Leute, denen der Umzug in ein Altersheim bevorsteht und die aus ihrer Wohnung ausziehen müssen. Wir sind für die Menschen im Quartier da.»

Kirche: Sozialarbeit und Vernetzung

In den Kirchgemeinden sind auch Sozialarbeitende angestellt, die, wie Pfarrpersonen auch, auf Bedürfnisse aus dem Quartier reagieren und Angebote schaffen. «Wir bieten für alle Altersgruppen etwas an», sagt Sozialarbeiterin Mandana Trucco, die bei der Kirchgemeinde Bern-Nord tätig ist. «Die Kirche hat einen gesellschaftlichen Auftrag, wir müssen für das Quartier und die Gesellschaft da sein», sagt sie. «Die Leute sollen teilhaben können, vor allem gerade auch solche, die einsam sind und/oder ein kleines Budget haben. Aber natürlich auch alle anderen.»

Sie und ihre Kolleginnen bieten nicht nur Beratung und finanzielle Unterstützung an, sie rufen auch soziale und kulturelle Angebote ins Leben. Das Zentrale dabei: Jede und jeder ist willkommen, unabhängig von Konfession und Glaube.

«Zu unserer Arbeit gehört auch, dass wir uns mit anderen Institutionen aus dem Nordquartier wie beispielsweise der Quartierarbeit Bern-Nord vernetzen. Wir treffen uns regelmässig beim Format Netzwerk Soziokultur zum Austauschen und stossen hin und wieder gemeinsame Projekte an», erklärt Mandana Trucco.

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Pfarrer Andreas Abebe.
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Konfession? Blick über den Tellerrand hinaus

An der gleichen Strasse wie die Johanneskirche, bloss 200 Meter entfernt, steht die katholische St. Marienkirche. Die beiden Kirchgemeinden spannen für vieles eng zusammen. Einmal pro Monat gibts etwa einen konfessionsübergreifenden – ökumenischen – Gottesdienst und der grösste Teil des kirchlichen Unterrichts findet ökumenisch statt. Und sowohl das Sommerfest wie auch das Kerzenziehen vor Weihnachten sind gemeinsame Anlässe.

Auch dieses Jahr hat sich von Mitte November bis Anfang Dezember im Untergeschoss des Kirchgemeindehauses St. Marien das halbe Quartier getroffen – das traditionelle Kerzenziehen in der Vorweihnachtszeit ist bekannt und beliebt.

«Es gibt viele Leute, die beim ökumenischen Kerzenziehen zum ersten Mal den Fuss in unsere Kirche setzen», sagt Stéphanie Meier, Sozialarbeiterin in der Kirchgemeinde St. Marien.

Und für die meisten ist es auch das einzige Mal im Jahr. Denn «Kirche» bedeutet für viele nach wie vor eine Hemmschwelle. Das veraltete Bild einer Kirche, in der es nur um Gottesdienst und Beten geht, steckt leider noch immer recht hartnäckig in den Köpfen fest. Dabei ist Kirche heute viel mehr und manchmal auch ganz anders.

So verteilen rund 35 Freiwillige jeden Dienstagnachmittag im Rahmen von «Tischlein deck dich» Lebensmittel an Menschen in sozialer Not. Und jeden Donnerstag sind Asylsuchende und Sans-Papiers zu einem Mittagessen in St. Marien eingeladen.

Kitt fürs Quartier

«Es ist wichtig, nahe bei den Menschen zu sein», sagt Stéphanie Meier. «Denn die Kirche hat die Möglichkeit, die Leute zu erreichen und für sie da zu sein.» Ob dies nun mit der Einzelfallhilfe geschieht, ob sie sich mit der Stiftung Krankenpflege für Menschen mit knappem Budget einsetzt, ob sie individuelle Sozialberatungen durchführt oder ob sie mit dem jährlichen Sommerfest vor der Marienkirche ein geselliges Zusammenkommen organisiert – die Kirche sorgt für Kitt im Quartier, Austausch und Gemeinschaft.

«Das Sommerfest ist ein wunderbarer Anlass, es ist ein Treffpunkt für Anwohnende», sagt Stéphanie Meier. «Ich habe erlebt, dass hier Freundschaften entstanden sind und ich erhalte immer wieder positive, erstaunte Rückmeldungen. Viele Leute, die nichts mit der Kirche zu tun relate, sind freudig überrascht: Wow, auch das ist Kirche?! Manchmal müssen wir halt aus der Kirche raus, damit Leute zu uns kommen.»

Alles neu und doch nicht

Wie viel in den Kirchen los ist, was sie alles anbieten – das ist den Quartierbewohnenden oft nicht bewusst. Die neuartigen Veranstaltungen, wie sie in der Markuskirche mit Enthusiasmus angestossen wurden, stiessen jedoch nicht immer auf Gegenliebe. Dass das Gotteshaus auch ein Raum für eine Bar oder Public Viewing ist, kann Menschen irritieren. Mit den Veränderungen in der Kirche kommt auch die Befürchtung auf, eine Heimat und einen vertrauten Ort zu verlieren.

«Diese Bedenken müssen wir ernst nehmen», sagt Pfarrer Tobias Rentsch. «Unsere Kirchgängerinnen und Kirchgänger sollen sich nach wie vor hier daheim fühlen. Wir wollen niemanden ausschliessen, es soll einfach auch Platz für neue und unterschiedlichste Bedürfnisse geben.»

Und er gibt zu bedenken: «Die Kirche ist eine der ältesten Festhütten, die es gibt. Wir feiern Taufen, Hochzeiten und sogar beim Tod gibt es eine Trauerfeier. Rituale zu Freude, Hoffnung und Dankbarkeit sind typisch für die Kirche.»

Und so tut die heutige Kirche nichts anderes als das, was sie schon immer tat: Die Leute zusammenbringen und die Gemeinschaft beleben. Dafür reicht es schon längst nicht mehr, zur Sonntagspredigt ins Gotteshaus zu rufen. Die Zwischennutzung in der Markuskirche sorgt für eine reiche Sammlung an Erfahrungen, was in einer Kirche möglich ist.

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Sozialarbeiterin Mandana Trucco und Pfarrer Tobias Rentsch.
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Stéphanie Meier (l.) und Anja Stauffer von der Kirchgemeinde St. Marien.
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