KONRAD PAULI

«Das Schreiben war wie ein Rettungsring»

Er ist uns schon als Quartierchopf 18 bekannt (Ausgabe 15/2017). Wir erfuhren damals, dass er in Aarberg aufwuchs, Lehrer wurde, Vater, journalistisch und literarisch Schreibender und auf Umwegen im Breitsch landete. Seit 2017 ist viel Wasser die Aare hinuntergeflossen. Was macht Konrad Pauli heute? Wie geht es ihm? Schreibt er noch?

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Konrad Pauli. Bild: Slavica Ivic

Was seither geschah: Ich war mein halbes Leben mit Silvia zusammen, neununddreissig Jahre. Wir hatten es gut und zufrieden, eine lebendige, herzliche Beziehung. Vor drei Jahren ist sie 77-jährig gestorben. Die Begleitumstände waren grässlich. Und in diesen drei Jahren musste ich viel lernen.

Silvia schaute gut zu sich, ich gut zu mir. Wir konnten das Alleinsein leben, waren einander aber auch nah, wenn wir nicht beisammen waren. Ich zum Beispiel in meiner Schreibmansarde, sie zu Hause oder unterwegs. Wir liessen einander Platz. Wir waren beide zum zweiten Mal verheiratet. Silvias Tochter ist gleich alt wie meine, wir haben einander über die Kinder kennengelernt. Wir waren neu im Breitenrain und für Sabine war noch alles fremd. Ein Mädchen in der Klasse nahm sich ihrer an und meine Tochter fragte, ob diese Schulkameradin mit auf die Velotour nach Paris kommen könne. Selbstverständlich! Aber ich wollte ihre Mutter kennenlernen. So stand Silvia eines Tages vor der Tür. Nach sechs Jahren heirateten wir. In neununddreissig Jahren gibt es auch mal schwierige Situationen, aber bei uns sind die nie chronisch geworden. Eines Abends vor drei Jahren fühlte sie sich nicht so gut. Wir fanden beide, 144 und die «Insel» seien überlastet. In der Nacht hörte ich Silvia schwer atmen, ich konnte sie nicht wecken, jagte auf und rief die 144. Es war ein starker Herzinfarkt. Intensivstation, am 31. Oktober ist sie gestorben. Der Bestatter, den ich zufällig im Quartier getroffen hatte, hatte gesagt: «Geh noch einmal zu Silvia.» Ich: «Ja, ich komme grad von dort.» Aber ich ging wieder hin. Die Pflegefrau zeigte mir den Monitor: 19, 18, 17…

Es gab dann viel Administration, für Verarbeitung war vorerst kein Platz. Ich konnte ein halbes Jahr nichts schreiben. Es hat mir abgestellt, aber ich spürte, es ist nicht tot. Ich war verhürschet, hatte mit dem Notwendigsten zu tun, konnte an viele Orte nicht mehr gehen. Es sind auch Freunde verloren gegangen. Nicht alle konnten verstehen, was diese Geschichte mit mir machte.

Ich konnte nicht schreiben, es war keine Entscheidung. Dann kamen mir Eva und Josef in den Sinn, das tschechische Künstlerpaar, über dessen eine Ausstellung ich einmal geschrieben hatte. Nach Josefs Tod konnte Eva keinen Streich mehr machen. Mir ging plötzlich auf: Sie hat das erlebt, was ich nun erlebe! Josef hatte oft auf dem Balkon übernachtet. Ich sah dieses Bild. Eva, die den Schlafsack nicht wegräumen konnte! Ich konnte auch vieles nicht wegräumen. Dieses Bild: Vom Jura her hat es geluftet und Eva zog den Schlafsack schön zurecht. Ich fing an zu schreiben.

Das war der Wiederanfang. Ich hatte keine Freude, sondern Schiss. Respekt. «Wenn das missrät, kann ich nichts mehr schreiben.» Ich schrieb langsam, ich war mittendrin in der Trauer, das merkt man der Erzählung an. Ich hängte Eva meine Geschichte an.

Dann Papa Moll. Silvia und ich waren im Sommer jeweils nach Mallorca gegangen. Da war ein Gast, den nannten wir Papa Moll. Wir hatten nie näher Kontakt. Aber einmal traf ich Papa Moll am Meer auf einem Holzsteg. Er stand auf dem mittleren von drei Tritten, die zum Sand hinunterführten. Ich sagte: «Noch einen Schritt und Sie sind oben.» Er: «Ja, ganz hinauf will ich noch nicht.» Er ging schwimmen, eine halbe Stunde später suchte seine Frau ihn aufgeregt – er war ertrunken, Herzinfarkt. Ich war der letzte Mensch, der mit ihm gesprochen hatte! Das gab eine kleine Erzählung.

Ich schrieb dann zirka fünfhundert, sechshundert Seiten Erzählungen ohne Titel. Mein treuer Verleger Klaus Isele wollte eine Auswahl davon haben. Es entstand der Sammelband «Das kleine Gehege», betitelt nach einer der darin enthaltenen Geschichten. Dann kam «passo per passo», auch eine Sammlung älterer Erzählungen. Ich mache mir keine Illusionen, was die Nachkommenschaft mit dem Nachlass machen wird. Darum bin ich froh, dass etliches Geschriebene nun in Buchform vorliegt.

Es muss jetzt grad ein Jahr her sein. Ich kam nicht aus dem Verlust heraus. Immerhin hatte ich da mein Schreiben, die neue Sammlung hiess «Rosengarten», sie trug mich ein wenig. Da fragte mich jemand, wie es mir gehe. Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, es gehe mir gut. Stattdessen antwortete ich: «Du weisch ja.» Darauf sie: «Du hast jetzt eben diesen Riss in dir.» Ich verstand genau, was sie meinte. Etwas ist gerissen.

Mein Verleger inspirierte mich dann, etwas über das Wutachtal zu schreiben, durch das ein Flüsschen fliesst, das an seiner Quelle Gutach und später Wutach heisst. Was ich dort schrieb, kam auch in die Sammlung, die nun «der Riss» und später «Wort für Wort am Leben bleiben» hiess. Das Schreiben war für mich wie ein Rettungsring.

Die aktuelle Literatur? Was die Buchpreisträgerin Dorothee Elmiger im Radio über das Schreiben sagte, entspricht ganz meiner Ansicht. Vor fünfzig Jahren etwa habe ich für mich den Neid abgeschafft. Ich habe so viele Kunstschaffende kennengelernt. Bei manchen merkte ich, dass sie unter der mittelmässigen Anerkennung litten und in einen Frust rutschten. Vielleicht habe ich von meinem Vater ein gewisses Narrentum geerbt. Mein Schreiben war immer ernsthafte Leichtigkeit. Ich bin der berühmteste Schriftsteller an der Schönburgstrasse 20 – diese Narrenfreiheit entspricht mir. Der Neid auf den Erfolg von jemand anderem hilft mir doch nichts! Er macht mich noch kleiner. Ich habe Respekt und freue mich, das ist meine Leichtigkeit: «Wow, hätte ich das geschrieben!»

Das phänomenal gepriesene Buch von Nelio Biedermann schlug ich irgendwo auf und musste sagen: «Wow. Grosser Respekt!» Da erwachte der Neid schon ein bisschen. «Wie kann ein so junger Mann ein solches Buch schreiben und dann noch der Erfolg? Aber me isch äbe sich, nid dä.»

Motive. Ich war in der Altstadt unterwegs. An einem Tischli unter den Lauben sass ein Mann ohne Arme. Er scrollte mit der Nase auf dem Händi. Ich schaute ihm diskret zu. Er fischte eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an einer Kerze auf dem Tisch an und trank sein Bier mit einem Röhrli. Ich eilte zum Bärenplatz, ebenfalls zu einem Bier, und schrieb einen dichten, kurzen Text. Dem Gegenstand entgegengehen, bis er zu dir kommt! Wenn mir etwas gelingt, dann geht es mir einen Moment so gut, ich vergesse, was passiert ist. In dem Sinn bin ich nie müde vom Schreiben. Höchstens gut müde.

Mit den Veränderungen im Breitsch habe ich gar nicht Mühe. Seine Substanz ist noch intakt. Ein Traum. Auso. Früher hatte ich teilweise sehr schöne Träume. Heute träume ich oft wirres Zeug durcheinander. Wenn ich zurückschaue auf mein Leben, ist es schön, wobei es manchmal auch wehtut. Ich konnte ein so reiches Leben leben, dass ich keine Perspektive mehr ins Auge fassen muss.

Das Vertrauen, dranbleiben zu können, solange ich noch lebendig bin. Was mich beschäftigt: Das Alterssiechtum. Das fürchte ich, wenn ich denn etwas fürchte.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

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