Von der Scham, ihren Folgen und der nötigen Umkehr
«Die Scham ... muss die Seiten wechseln»: Mit diesem Thema beleuchten die diesjährigen Filmtage den Zusammenhang zwischen Scham und Schuld, zwischen Opfer- und Täterschaft. An den drei Abenden wird je ein Film aufgeführt, im Anschluss gibt es Gespräche mit Fachpersonen.
Das Böse triumphiert meistens dann, wenn das Gute nichts dagegen unternimmt oder zumindest wegschaut. Gisèle Pelicot blieb nicht untätig. Sie war nicht bereit, sich zu schämen für etwas, das ihr angetan wurde, und ging in die Öffentlichkeit. Sie, die von ihrem Ehemann regelmässig und über Jahre mit Medikamenten betäubt und missbraucht, wie eine Ware angeboten und von rund 80 weiteren Männern vergewaltigt und dabei gefilmt wurde. Das Schicksal der Französin und deren Zitat, dass die Scham die Seite wechseln muss von den Opfern zu den Tätern, löste europaweit enorme Reaktionen aus. «Was mit ihr passierte», sagt Samuel Geiser, seit Jahren Mitglied des Teams der Filmtage, «war sehr präsent, als wir uns austauschten über das kommende Thema, und gab letztendlich den Ausschlag.» Chloé Le Grand ist erstmals in der Gruppe dabei, für sie war der Zusammenhang zwischen Schuld, Scham und Opferrolle zentral für die Auswahl der Filme: «Es geht um das Bewusstsein, dass nicht die Opfer die Schuld und die Scham tragen müssen, sondern eben die Täter.»
Das Gefühl von Mitschuld
Gerade bei Frauen sei es im Zusammenhang mit sexueller Gewalt eine vertrackte Situation, da sie sich oft die Schuld selber geben. Weil sie sich schämen, aber auch weil sie ständig gefragt würden, wie sie sich verhalten haben, was sie anders hätten machen können. «Genau das sind die Faktoren, die implizieren, dass eine Mitschuld besteht. Dieser problematische Umgang mit sexueller Gewalt an Frauen schwächt die Opfer und schützt die Täter. Was Wut oder Rachegefühle auslösen kann.» Solche entwickelt die Filmfigur Mildred Hayes im Film «Three Billboards OutsideEbbing,Missouri»,einemder Filme im diesjährigen Programm. Die Mutter einer vergewaltigten und getöteten Tochter fordert die örtliche Polizei einer Kleinstadt auf, endlich alles zu unternehmen, um den Täter zu fassen. Mit ihren unzimperlichen Aktivitäten begibt sie sich in ihrer Ohnmacht bewusst in einen Kleinkrieg mit den lokalen Institutionen, die für sie in der Mitschuld stehen, und wird mangels anderer Möglichkeiten selbst zur Täterin. «Es ist ein heftiger Film», sagt Chloé Le Grand, «besonders stark ist für mich, dass die Mutter die klassische Opferrolle nicht akzeptiert und dagegen ankämpft; auch mit Mitteln, die objektiv gesehen nicht richtig sind.»
Zweifache Bestrafung
Der Film «Mitgefangen» befasst sich intensiv mit dem Leiden der Angehörigen von Gefangenen, die nach dem Verüben einer kriminellen Tat im Gefängnis eine Strafe verbüssen. Die Familienmitglieder sind mitgefangen, zurückgelassen mit ihrer Scham und ihren Schuldgefühlen. «Es kann so weit gehen, dass Angehörige von Gefangenen kriminalisiert werden», sagt Samuel Geiser, «was im Film zum Ausdruck kommt. Aber auch, dass es kaum Institutionen gibt, die sich um die Angehörigen kümmern.» Dieser Umgang durch die Behörden sei nicht gerecht, vor allem jedoch nicht hilfreich, denn: «Es ist niemandem geholfen, wenn beispielsweise Eltern, deren Kind im Gefängnis ist, von der Gesellschaft auch noch mitverurteilt werden.» Mit der Absicht, jemanden zu Recht für eine Tat zu bestrafen, ergänzt Chloé Le Grand, gehe oft verloren, dass eine zweifache Bestrafung stattfindet, weil auch die Angehörigen darunter leiden, was nicht sein sollte. Besonders stark leiden Kinder unter diesen zerrütteten Verhältnissen als «Mitgefangene». Das Schicksal von Kindern, die dieses nicht selbst bestimmen können, ist das Thema des dritten Films, Titel: «Im Land der verbotenen Kinder».
Schamgefühle von Kindern und Eltern
Das Werk blickt zurück in ein Kapitel der Schweizer Geschichte mit einem unangenehmen Beigeschmack, gerne verdrängt wird. Es geht um die ausländischen Saisonniers, also um jene, von denen der Schriftsteller Max Frisch einst festhielt, dass Arbeitskräfte gerufen wurden, jedoch Menschen gekommen sind. Die Saisonniers wurden nur für eine bestimmte Zeit beschäftigt und der Familiennachzug war während der ersten Jahre verboten. Das Saisonnierstatut riss Familien auseinander, was zu schwierigsten emotionalen Bedingungen und sozialen Problemen führte. Um die Trennung zu umgehen, kamen viele der Kinder trotzdem in die Schweiz, wo sie illegal und deshalb versteckt lebten. Tausende Kinder waren ausgeschlossen von der Schule und überhaupt vom öffentlichen sozialen Leben. «Heute weiss man», sagt Samuel Geiser, «dass sich die Kinder geschämt haben, weil sie Kinder waren von Eltern, die ihnen beispielswese verbieten mussten, draussen zu spielen. Aber auch die Eltern hatten Schamgefühle: entweder weil sie die Kinder im Heimatland zurückliessen oder weil sie die Kinder hier versteckt hielten.» Ob Unrecht an Kindern, ob Missachtung des Schicksals Angehöriger von Gefangenen oder sexualisierte Gewalt: Die Mitglieder im Team der Filmtage sind sich einig, dass es höchste Zeit ist für die Scham, die Seite zu wechseln.
INFOS
9. Breitsch-Träff-Filmtage
30. Oktober bis 1. November 2025
Barbetrieb ab 18.30 Uhr
Filmvorführungen um 19.15 Uhr, anschliessend Gespräche/Diskussion
Eintritt frei, Kollekte