Corinnas Quartier Talk

Corinnas Quartier Talk mit Alex Melnichenko

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Alex (35) ist Ingenieur und Barista und lebt in Cherson in der Ukraine. Die Stadt ist verlassen, nur wenige Menschen wohnen noch da. Alex hat mit seiner Freundin eine Zeit lang anderswo gelebt, doch dann hat es sie wieder in ihre Heimatstadt gezogen. Alex betreibt eine kleine Kaffeebar, in welcher er das gewohnte Leben weiterhin aufrechterhält und Menschen einen Ort der Gemeinschaft bietet, wo sie das Schreckliche des Krieges für einige Momente vergessen können. Fast täglich postet er Bilder auf Instagram, von seiner Stadt im Krieg. Er zeigt das Schöne, das Zärtliche, Dinge, die gut tun, nebst all der zerbombten Häuserfronten ...

Persönliches: Alex hat zwei Bachelorabschlüsse in Wasserbau und Wasserressourcen und beschäftigt sich heute lieber mit Dingen, die ihm gefallen: Kaffee und Kreativität; beides erlernte er autodidaktisch. Er ist Teil einer grossen Familie, doch ausser einem Onkel lebt diese nicht mehr in Cherson, sie haben die Stadt des Krieges wegen verlassen. Alexander lebt mit seiner Freundin und drei Katzen in einem Mehrfamilienhaus.

Was ist deine Motivation, deine Stadt und die Szenerien auf Instagram zu posten?
Meine Freundin und ich sind aus der besetzten Region weggezogen und haben ein Jahr lang in anderen Städten gelebt. Da Cherson unsere Heimatstadt ist, haben wir immer Fotos und Videos davon vermisst, haben jede Neuigkeit verfolgt und wollten immer zurückkehren! Jetzt sind wir seit mehr als zwei Jahren in Cherson und es ist meine Entscheidung und meine Pflicht, allen, die es brauchen, unsere Stadt zu zeigen!

Was fühlst du, wenn du deine Bilder und die Stimmungen siehst, die leeren Strassen, die Tiere?
Jetzt sind viel weniger Menschen hier, deshalb ist es geräumiger geworden und man kann sich besser erholen. Viele Menschen kehren nach Cherson zurück, um sich zu erholen, wie kürzlich ein Bekannter aus Deutschland, der für eine Woche Urlaub nach Cherson gekommen ist. Aber es gibt auch eine andere Seite: Unsere Stadt wird zerstört, ständig gerät jemand unter Beschuss, es gibt Explosionen und irgendwo brennt etwas ... doch das kann die Menschen und ihre Liebe zu ihrer Heimat nicht brechen!

Man sieht auf deinen Bildern kaum Menschen. Ist in Cherson wirklich kein Treiben mehr wie einst?
Ich fotografiere weniger Menschen, weil es dort, wo ich hingehe und arbeite, gefährlich ist und es keine Menschen gibt. Mein Café liegt 1,5 km vom linken Ufer des Dnjepr entfernt, an dem sich Russland befindet. Zudem möchten die meisten Leute nicht fotografiert werden und ich versuche, ihren Wunsch zu respektieren.

Bist du traurig, wütend? Was fühlst du als direkt Betroffener des Krieges?
Ich bin froh, dass ich in meine Heimatstadt zurückgekehrt bin und meinen alten Job für die Menschen, die hier geblieben sind, mache. Ich freue mich über jeden Tag und jede Nacht und lebe im Hier und Jetzt. Aber natürlich bin ich müde vom Krieg, habe mich an Explosionen und Todesfälle gewöhnt, warte darauf, dass alles vorbei ist, und hoffe, dass ich wieder friedliche Zeiten erleben werde.

Wie intensiv spürst du den Krieg in deiner Stadt?
Einerseits befinden wir uns sehr nahe an der Front, aber nach zwei Jahren hat man sich an alles gewöhnt – deshalb schlafen wir trotz nächtlicher Beschüsse und Kampfhandlungen, denn am nächsten Tag müssen wir zur Arbeit!

Wie sieht es mit der Grundversorgung aus?
In Cherson gibt es fast alles in den Geschäften und auf den Märkten, wir haben keine Probleme mit Treibstoff und Wasser, Strom und Kommunikation; nur die Menschen werden weniger, weil sich die Grenzen der Beschiessungen ausweiten und die Drohnen weiter vom Dnipro wegfliegen.

Wie reagieren die Menschen auf deine Fotos?
Die Menschen bedanken sich für die Fotos, weil sie sich freuen, ihre Heimat zu sehen. Sie sind traurig, dass vieles zerstört wird, aber alle, die hier leben, wissen: Die alte Geschichte wird zerstört, wir werden eine neue aufbauen, nach unserem Geschmack und unseren Vorlieben!

Du sagst, du seist mit deiner Freundin ein Jahr lang weggezogen. Sind viele Leute zurückgekommen oder sind viele deiner Freunde und Bekannten immer noch weg aus deiner Heimat?
Ich kann so antworten: In Cherson sind noch etwa 10 % meiner Bekannten geblieben, viele sind seit mehr als drei Jahren in mehreren Städten und Ländern, viele haben dort ein anderes Leben, viele werden nicht zurückkehren. Aber jetzt sind die meisten unserer Bekannten zu Freunden geworden, und unsere ehemaligen Freunde sind fast wie eine Familie geworden! Wir schätzen den Code sehr.

Kannst du den Lesenden ein bisschen von deinem Leben in der traurigen Situation eines Krieges erzählen?
Mein Leben ähnelt ein bisschen dem Film «Und täglich grüsst das Murmeltier»: Arbeit/Zuhause, Zuhause/ Arbeit, Beschuss ... aber ich schätze meine Freizeit und überhaupt alles um mich herum mehr! Das Leben in Cherson bedeutet derzeit, jeden Moment zu schätzen und darauf zu hoffen, dass alle den nächsten Tag überleben werden, dass das Leben trotz allem weitergeht!

Läuft dein Café? Kommen Menschen vorbei und tauscht ihr euch aus?
Ich bin nicht der Besitzer des Cafés, ich bin der einzige Angestellte. Natürlich tue ich alles in meiner Macht Stehende, damit es funktioniert, denn das ist wichtig für die Menschen, die es besuchen. Das Interieur, die Leckereien, der Kaffee, die Qualität und die Aufmerksamkeit – all das ist sehr wichtig, um sich ein wenig von allem zu erholen, was derzeit um uns herum geschieht, denn trotz des Krieges ist im Café alles so, wie es immer war.

Wie und wo siehst du deine Zukunft?
Meine Zukunft sind meine Freundin und meine Lieblinge. In Zukunft werde ich nur das tun, was mir gefällt: Kaffee, Kreativität, meine kleine Familie.

Haben deine Reportagen etwas bewegt und sind Menschen zu dir gereist oder hast du auch Hilfe erhalten?
Viele Menschen aus der ganzen Ukraine und aus Europa kamen zu mir ins Café. Ich werde als Künstler langsam bekannter. Ich habe Menschen gefunden, die mich unterstützen und mir helfen können, und ich habe eine neue Familie gefunden.Durch den Krieg haben sich meine Wahrnehmung und mein Empfinden für meine Umgebung stark verändert und ich bin froh, dass diese Menschen jetzt an meiner Seite sind. Momentan arbeite ich an meiner Zukunft als Künstler: Meine Werke sind über die ganze Welt verstreut! Wenn der Krieg vorbei ist, wird es einfacher sein, nicht nur für die nahe Zukunft Geld zu verdienen, sondern auch für die Zukunft zu sparen! Ich bin auch ehrenamtlich kreativ tätig und sammle Geld für die Soldaten in der Region Cherson.

Was hat der Krieg mit dir und den Menschen, die du kennst, gemacht? Wie denken die jungen Leute über die alten Strukturen von Kriegen und Macht?
Der Krieg hat unser Land in ein Vorher und in ein Nachher geteilt. Viele Menschen haben verraten, viele verraten jetzt, die Menschen beginnen, die Sprache, die Bräuche und Traditionen, die ukrainische Kultur im Allgemeinen – sowohl die moderne als auch die traditionelle – mehr zu respektieren! Der Krieg fungiert als Filter für alles Schlechte, das ist schmerzhaft, das ist schwierig, aber wir müssen das durchstehen, damit wir noch geeinter und stärker werden! Wir hoffen auf das Beste – alles wird gut für die Ukraine.

Lieber Alex, danke für deine Zeit und deine Antworten.

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