Eine Lücke zur Aufarbeitung unserer Geschichte und Gegenwart
Im Auftrag der Stadt Bern schuf die Künstlerin Shirana Shahbazi ein neues Kunstwerk im Schulhaus Wylergut, das im September in ihrer Anwesenheit eingeweiht wurde. Das vorherige Werk löste jahrelange Kontroversen wegen kolonialrassistischer Darstellungen aus. Die leere Stelle im neuen Bild entspricht dem Umriss des alten Werkes.

Lange Zeit geschah nichts. Erstaunlicherweise, denn es geht um etwas, für das nach heutiger Denk- und Fühlweise kein Platz mehr ist. Ausgerechnet in einem Schulhaus, wo Werte wie Wissen und Sozialkompetenz vermittelt werden, hatte es Platz für ein Wandbild, von dem der Verein «Das Wandbild muss weg» festhält, dass das Werk rassistisch ist, ohne Wenn und Aber. Erst nachdem im Jahr 2019 bei der Stadt Bern eine Beschwerde wegen kolonialistischer Stereotypen eingegangen war, etablierte sich ernsthaft Widerstand. Getragen durch den Verein und den «Berner Rassismus Stammtisch», gerichtet an ein Werk zweier Künstler aus dem Jahr 1949, das in einer Bildfolge auf Keramikplatten den Schulkindern durch bildliche Darstellung jedes einzelnen Buchstabens das Alphabet näherbrachte. Gegen die Zuordnung von Pflanzen oder Tieren für jeden Buchstaben wäre wohl kein Widerstand entstanden; gegen die Zuordnung von drei klischeehaften Darstellungen sowie Bezeichnungen aus der Kolonialzeit für nicht-weisse Menschen hingegen schon. Kritisiert wurde insbesondere deren Gleichsetzung mit Tieren und Pflanzen sowie die Abgrenzung der weissen, zivilisierten Welt zu Gesellschaften, deren Kultur und Lebensweise als primitiv oder simpel galt.
Umgang mit kolonialem Erbe
Der Entscheid, wie mit diesem Erbe und seinem unangenehmen Beigeschmack umzugehen sei, war eine grosse Herausforderung; man wollte möglichst allen Anliegen gerecht werden und es sollten auch diejenigen Kreise in die Diskussion einbezogen werden, die sich gegen die Entfernung des alten Wandbildes wehrten. Die Stadt Bern schrieb einen Wettbewerb aus, das Siegprojekt des Vereins «Das Wandbild muss weg» wurde umgesetzt und vor zwei Jahren wurde das Wand-ABC demontiert, restauriert und dem Bernischen Historischen Museum geschenkt. Dort war es bis vor Kurzem Teil einer Ausstellung zum Thema Rassismus. Sechs Jahre danach nun also die Einweihung des neuen Werkes der international renommierten Künstlerin Shirana Shahbazi. Sie hat im Austausch mit dem Verein ein Werk aus farbigen Keramikplatten erschaffen; diese ziehen sich durch das Treppenhaus, sie umrahmen Türen und Fenster. Und sie lassen eine grosse, weisse Stelle frei. Der Umriss dieser Lücke entspricht dem alten Wandbild und wird nach dem Willen der Künstlerin und des Vereins in den nächsten Jahren unter Einbezug der Schulkinder ausgefüllt werden; als Lernprozess zur Aufbereitung der Vergangenheit und zur Förderung unseres Bewusstseins zur Gegenwart.
Beteiligung der Öffentlichkeit
«Hinschauen statt wegschauen», so lässt sich die Aussage des Werkes zusammenfassen und so formuliert es die Gemeinderätin Ursina Anderegg zur Begrüssung der zahlreichen Gäste an der Vernissage. «Der heutige Anlass ist ein wichtiger Moment in einer abwechslungsreichen Geschichte», sagt sie, und erwähnt die vielen Diskussionen in der ganzen Stadt und darüber hinaus, welche durch diese problematische Darstellung in einem Volksschulhaus entstanden seien. Die Gemeinderätin ist sich bewusst, dass zum Thema Rassismus sehr viele Meinungen aufeinandertreffen und dass dies so bleiben wird. Sie bedankt sich beim Verein für das hohe Engagement und betont, dass das Erkennen von Rassismus ein intensiver Prozess sei, zu dem das Projekt einen wichtigen Beitrag geleistet habe. Angela Wittwer als Mitglied des Vereins unterstützt diese Aussage; gefragt nach den Auswirkungen rund um das Wandbild sowie der Ausstellung im Museum, antwortet sie: «Das alles hat viel bewirkt: Es kam zu einer öffentlichen Auseinandersetzung darüber, wie wir zeitgemäss mit kolonialem Kulturerbe umgehen können. Daran waren Gesellschaft, Medien, Institutionen und Behörden aktiv beteiligt. Damit ist das eigentliche Hauptziel des Projektes erreicht.»
Rassismus und Zeitgeist
Diesen Punkt hebt auch Ursina Anderegg hervor. Es sei getan worden, was getan werden musste, sagt sie, «auch für die politischen Behörden ist es eine wichtige Aufgabe, sich unserer Geschichte zu stellen.» Um Rassismus zu thematisieren, so Angela Wittwer, brauche es vor allem eine Sensibilisierung dafür, wie und wo Rassismus wirkt: «Rassismus wirkt in Strukturen ebenso wie im Alltag. Oft wirkt er unbewusst und unbeabsichtigt.» Dass Rassismus stark mit dem jeweiligen Zeitgeist zu tun hat, wird durch die Tatsache unterstrichen, dass das ursprüngliche Werk von Künstlern mit einer sozialistischen Weltanschauung erschaffen wurde. Auch Franziska Burkhardt, Kulturbeauftragte der Stadt Bern, betont in ihrer kurzen Rede den starken Zusammenhang zwischen Gedankengut und Zeitgeist: «Wir alle sind Kinder unserer Zeit. Wir betrachten die Geschichte immer aus unserer Perspektive. Diese ist geprägt durch unser Umfeld und unseren Hintergrund.» Die Kunst, sagt sie, solle nicht als Problemlöserin instrumentalisiert werden, habe jedoch die Aufgabe, sich mit der Aktualität auseinanderzusetzen. Das hat Shirana Shahbazi getan. Mit Freude und sehr lustvoll habe sie daran gearbeitet, sagt die Künstlerin, trotz der Ernsthaftigkeit des Themas: «Ich bin stolz, hier zu sein und es ist mir eine Ehre, auf diesem Weg einen Beitrag zu einem Prozess geleistet zu haben, der hoffentlich Vorbildcharakter hat für die Schweiz.»