Ganz normal und doch anders
Mit der Lorraine22 kam ein neues Gastro-Konzept ins Lorraine-Quartier. Hier arbeiten Menschen mit und ohne Beeinträchtigung und zeigen, dass Inklusion auch ohne Subventionen möglich ist.

Die Adresse hat dem Lokal seinen Namen gegeben: Die «Lorraine22» befindet sich in der Nummer 22 der Lorrainestrasse. Der Name ist vor allem aber auch Konzept – die gemütliche Beiz mit dem Brasserie-Charme, die sich alten Sandsteinhaus befindet und von ausladenden Bäumen umrahmt wird, ist nach dem «Provisorium46» in der Länggasse und der«Fabrique28» im Monbijou das dritte Restaurant der Mischbar Gastro Gruppe des Vereins Blindspot. Die Besonderheit dieser Lokale: Hier wird Inklusion gelebt. «Bei uns arbeiten Menschen mit und ohne Beeinträchtigung», sagt die Betriebsleiterin Melanie Molo. Es ist Montag früh, der Morgen ist nass und grau, doch das scheint die Bernerin nicht zu stören, sie strahlt Schwung und Tatkraft aus und erzählt von ihrer Arbeit. Es ist eine mit viel Engagement.
Inklusive Normalität
Die Lorraine22 ist ein ganz normales Lokal, das keine Subventionen erhält und den Menschen mit Beeinträchtigungen eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt bietet. Doch wie funktioniert ein solcher Betrieb? Oft stellt man sich vor, dass Menschen mit Trisomie 21 oder mit Autismus die Aufgaben eines «normalen» Arbeitsalltags nicht meistern können. Doch das sind Vorurteile. «Wir fokussieren auf die Stärken. Jeder Mensch kann gewisse Dinge besser, andere weniger», erklärt Melanie Molo. «Ich mixe beispielsweise auch nicht an der Bar Cocktails», sagt sie lachend. «Das können andere viel besser als ich.» Sie zählt gleich auch auf, was diese Mitarbeitenden besonders gut können: «Gastgeberin und Gastgeber sein, gute Stimmung schaffen, durch den Abend führen, bedienen, abräumen und die Arbeit an der Theke.»
Durchdachtes Konzept
Etwa ein Drittel ihres Teams besteht aus Menschen mit Beeinträchtigungen. Was sie brauchen, ist vor allem eine längere Einarbeitungszeit. Sie erhalten in den meisten Fällen ein zusätzliches Coaching, das die Invalidenversicherung IV übernimmt. Sie lernen dabei beispielsweise, die Kasse zu bedienen. «Manche werden mit der Zeit so gut, dass sie das Lokal am Feierabend selbstständig abschliessen können.» Natürlich ist Melanie Molo immer erreichbar, wenn jemand Fragen hat oder eine unerwartete Schwierigkeit auftaucht. «Wir brauchen vielleicht mehr Geduld, doch die Menschen mit Beeinträchtigungen können am ersten Arbeitsmarkt teilhaben. Wir müssen dafür vor die Abläufe und Strukturen einfach und klar organisieren.» Sehr kompliziert ist dies nicht – und von klaren Strukturen profitieren schlussendlich alle Mitarbeitenden. An den Getränkeschubladen kleben beispielsweise Fotos der jeweiligen Getränke. So kann sich jede und jeder schnell orientieren. Ganz grundsätzlich muss der Austausch im Team eng und gut sein. «Wir sind sehr ehrlich miteinander und man muss dies Ehrlichkeit auch annehmen können.»



Auch hier: Fachkräfte gesucht
Fragt man Melanie Molo nach den Schwierigkeiten in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung, denkt sie kurz nach. «Mir kommen keine in den Sinn» ist ihre Antwort. Die Schwierigkeiten liegen dort, wo man sich auch in jedem anderen Gastrobetrieb findet: «Wir müssen rentabel wirtschaften und gutes Personal finden. Das ist derzeit das Schwierigste – es fehlt auf dem Markt an ausgebildeten Service-Fachkräften und Küchenpersonal.» Negative Reaktionen gäbe es kaum, meint die Betriebsleiterin. Sie erinnert sich bloss an eine Offerte, bei der nachgefragt wurde, ob denn der Service «verhäbt». Doch es ist ganz klar: «Die Qualität muss stimmen», sagt Melanie Molo. «Und: Die Inklusion soll gar nicht im Vordergrund stehen. In erster Linie wollen wir ein Lokal sein, in das die Gäste gerne kommen und sich wohl fühlen.»
Von der Quartierbeiz zur Event-Bar
Die Lorraine22 ist ein junges Gewächs im Gastro-Garten des Quartiers. Das Lokal wurde im März 2023 eröffnet. Nach einem schwungvollen Start wurde es schwierig, sich neben all den anderen Beizen in der Nachbarschaft zu etablieren. So hat Melanie Molo mit ihrem Team das Konzept geändert: Heute ist das Lokal eine Event-Bar, die man für Anlässe buchen kann und es wird zudem an wechselnde Pop-Ups vermietet. «Wir haben gemerkt, dass bei Privaten und Firmen ein grosses Bedürfnis nach Räumlichkeiten besteht. Bei uns kann man von Apéro, Konzertabend, Lesungen über Bankett bis hin zur Party alles durchführen», sagt Melanie Molo. Das Restaurant mit der eleganten langen Bartheke bietet Platz für bis zu 50 Gäste. Doch auch für den intimeren Rahmen passts: In diesem Raum mit dem Parkettboden, der Holztäfelung, dem verspielten Pflanzendeko und dem gemütlichen Brasserie-Flair fühlt man sich auch als kleinere Gästegruppe nicht verloren. Wer Party machen will, kann den Gewölbekeller mieten, im Untergrundmit dem Sandsteingewölbe darf mit Überzeitbewilligung bis um halb vier gefeiert werden.
Pop-Up für alle
Geöffnet bleibt die Lorraine22 aber dennoch für alle – zumindest an bestimmten Tagen. Derzeit gastiert das Pop-Up «Tapas on tour» von Influencias hier: Bis am 17. Dezember gibt’s jeweils am Donnerstag und Freitag ab 16 Uhr 30 Tapas aus aller Welt. Ob ihr eigenes Essensangebot für ihre Gästegruppen oder jenes der Pop-Ups, es wird viel Wert auf Nachhaltigkeit, Saisonalität und lokale Lieferanten gelegt – wenn möglich soll es auch bio sein. Melanie Molo, die ausgebildete Sozialpädagogin mit Wirtepatent, hat ihre gastronomische Laufbahn vor sechs Jahren in der Fabrique28 gestartet. Einen besseren Arbeitsort als die inklusiven Lokale der Mischbar Gastro Gruppe kann sie sich nicht vorstellen. «Ich könnte mir keine andere Art von Gastro-Job mehr vorstellen als das inklusive Modell.»
