Dieser Artikel wurde von der «Plattform J» zur Verfügung gestellt.
Breitenrain-Lorraine: Trendig, politisiert und unter Druck
Die Plattform J nimmt diesen Sommer die Stadtteile Berns unter die Lupe. Mit den Menschen vor Ort, der Stadtplanerin und einem Historiker rücken wir jede Woche einen Stadtteil ins Zentrum und zeigen, was ihn einzigartig macht. Der fünfte Stadtteil ist wohl der trendigste und stark von Gentrifizierung und steigenden Wohnungsmieten betroffen. Mittelfristig sollen grössere Bauprojekte mit billigem Wohnraum für Entlastung sorgen.

Die Stadt Bern ist trotz ihrer überschaubaren Grösse sehr facettenreich. Sechs offizielle Stadtteile, welche in 32 statistische Bezirke und wiederum 114 gebräuchliche Quartiere aufgeteilt sind, bilden gemeinsam das urbane Gefüge. In dieser sechsteiligen Sommerserie konzentrieren wir uns auf die Stadtteile. Vom historischen Zentrum bis zu den dynamischen Aussenquartieren erzählen sie von der räumlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt Berns.

Nach Kirchenfeld-Schosshalde geht es weiter mit Stadtteil V – Breitenrain-Lorraine. Nebst der Altstadt ist er mit 3,82 Quadratkilometern der kleinste Stadtteil und gilt als sehr lebendig und hip. Er ist stark politisiert, im Stadtrat sind überproportional viele Menschen aus dem Stadtteil vertreten.
Gerade der «Breitsch» ist weit über die Stadtgrenzen bekannt, unter anderem auch dank des FC Breitenrain, einer der stärksten Quartiervereine im Schweizer Fussball, und des Komikers Renato Kaiser, der im Quartier gelebt und es liebevoll zerpflückt hat. Entsprechend beliebt ist das Trendquartier zum Wohnen bei Stadtbernerinnen und -bernern, aber auch bei Zugezogenen – wenn sie es sich leisten können.
Laut der Immobilienplattform «RealAdvisor» kostet eine Vierzimmerwohnung im Breitenrain im Schnitt 2600 Franken im Monat – in der gesamten Stadt sind es rund 1000 Franken weniger. Vor rund fünf Jahren sorgte die Migros für Aufruhr, als sie in einer Neubausiedlung am Breitenrainplatz rund 3000 Franken für eine Dreieinhalbzimmerwohnung verlangte.


Gentrifizierung als zentrales Thema
Die steigenden Mietpreise und die Gentrifizierung des Stadtteils beschäftigen auch die Mitglieder der Quartierkommission DIALOG Nordquartier stark. Präsident Andreas Abebe spricht im Barbière von einer schleichenden Entwicklung, die aber kaum zu bremsen ist. «In der Lorraine geschieht die Gentrifizierung mit einem grossen Lärm, und die Bevölkerung wehrt sich stärker dagegen. Im Breitenrain hingegen ist sie weniger sichtbar und passiert oft unter der Hand – viele junge vermögende Paare kaufen Wohnungen und verdrängen langsam Menschen mit weniger Einkommen», so der Pfarrer, der 1992 als Student im Quartier eingezogen ist und hier seit 2003 seinem Beruf nachgeht.
«Res» Hofmann engagiert sich seit 1980 für Anliegen im Quartier und hat hautnah miterlebt, was die steigenden Mietpreise bedeuten. «Weil ich seit Langem in der gleichen Wohnung lebe und vergleichsweise wenig Miete zahle, wurde mir gekündigt», erklärt der frühere Gross- und Stadtrat. Hofmann habe jedoch vor der Schlichtungsbehörde eine Mietverlängerung von drei Jahren erwirken können. «Vor 45 Jahren wurde ich von Spekulanten aus der Altstadt in den Breitenrain verdrängt. Nun passiert hier das Gleiche.»
Um sich eine Übersicht über die Situation zu verschaffen, hat er alle Leerkündigungen der vergangenen Monate im Breitsch zusammengetragen: «Alleine rund um den Breitenrainplatz wurden seit Anfang Jahr sechs Liegenschaften vollständig leergekündigt. Beim letzten Fall vom Juni an der Scheibenstrasse 27/29 sind 66 Mietparteien betroffen.»
Die Quartierorganisation hat keine Instrumente, um dieser Entwicklung entgegenzutreten, und sieht sich selber in einer kleinen Mitschuld: «Wir haben in den letzten 20 Jahren viel erreicht, was die Verkehrsberuhigung angeht. Das steigert die Attraktivität eines Quartiers und führt zu höheren Miet- und Grundstückpreisen», sagt Hofmann. Somit habe er «den Ast abgesägt, auf dem er selber sitze», meint er etwas pathetisch.

Die Situation sei jedoch nicht im ganzen Stadtteil die gleiche, fügt Geschäftsleiterin Annina Manser an. «Auch wenn der Stadtteil V weniger homogen ist als andere: Die Themen, die aus den verschiedenen Quartieren, wie beispielsweise dem Wylergut, dem Wankdorf, dem Breitenrain oder der Lorraine, an uns herangetragen werden, sind teilweise andere.»
Die Gegensätze innerhalb des Stadtteils haben allerdings in den letzten Jahren abgenommen, weiss «Res» Hofmann. «Früher hat man das Wyler- und das Wankdorfquartier 'Klein-Bümpliz' genannt, und die Menschen im Breitenrain haben sich als 'meh-besseri' gefühlt. Auch politisch gab es grosse Differenzen. Das ist heute nicht mehr so.» Als Grund nennt Hofmann die zunehmende Gentrifizierung auch in den peripheren Gebieten und dass die städtischen Schulen seit der Zusammenlegung der Schulkreise besser zusammenarbeiten.
Abebe blickt gespannt auf die Entwicklungen der kommenden 15 bis 20 Jahre. «Der Stadtteil wird bevölkerungsmässig explodieren. Das erfordert eine gute Sozialplanung der Stadt, insbesondere was den Schulraum betrifft», mahnt der Pfarrer. Die grossen Wohnbauprojekte beim Wifag-Areal, an der Wankdorffeldstrasse und Wankdorf City 3, die im kommenden Abschnitt detaillierter behandelt werden, würden in der Quartierbevölkerung mit viel Interesse beobachtet.

Die Stadtplanerin freut sich über viel zusätzlichen Wohnraum
Im Stadtteil V entstehen derzeit neue urbane Räume. «Zwischen Autobahn und Bahngleisen wurden mit dem Projekt 'Wankdorf City' in den letzten Jahren grosse Büro- und Dienstleistungsflächen realisiert, etwa für Post und SBB», sagt Stadtplanerin Jeanette Beck. «Wankdorf City ist ein klassisches Montag-bis-Donnerstag-Quartier ohne echte Durchmischung und ohne grosses Quartierleben.»
Mit Wankdorf City 3 soll nun nachgebessert werden. «Das ist die letzte Etappe des Areals und wurde bewusst anders gedacht: mit spezieller Architektur wie etwa Tiny Houses auf 30 Metern Höhe. So soll eine Wohnbevölkerung in das neue Quartier angezogen werden. Die Investorin strebt eine hohe Wohnnutzung an, es sind aber auch Räume für Gewerbe und Dienstleistungen und auch diverse Angebote für das Alltägliche geplant.» Laut Beck können dank eines neuen Gewerbehauses auch ein Teil der Gewerbetreibenden an ihrem heutigen Standort bleiben.
Zentral sei zudem das Wifag-Areal mitten im Stadtteil, der zunehmend von Gentrifizierung betroffen ist. «Darum ist eine aktive Wohnbaupolitik wichtig, die mehr und preisgünstigen Wohnraum schafft. Auf dem Wifag-Areal entstehen rund 330 Wohnungen auf einem ehemaligen Industrie- und Gewerbeareal», erklärt Beck. Weiteres Potenzial sieht die Stadtplanerin in der Wankdorffeldstrasse. «In den nächsten Jahren könnten dort rund 1000 Wohnungen realisiert werden.»
Sie freut sich, dass es in Bern mehrere solcher Areale gibt, wo neuer Wohnraum entstehen kann. «In Zürich beispielsweise gibt es kaum noch Industrie- und Gewerbebrachen. Das erhöht den Druck, bestehenden Wohnraum zu ersetzen, wodurch meist teurerer Wohnraum entsteht, insbesondere, wenn weder die Stadt noch Genossenschaften Eigentümerin sind.» Ein weiterer Fokus liegt auf dem Gebiet rund um das Nationale Pferdezentrum und den Guisanplatz. «Hier ist eine Konzentration von Spital- und Verwaltungsnutzungen denkbar», sagt Beck.
Blick auf die Geschichte von Stadtteil V
«An den Aarehängen gab es im Mittelalter Weinberge (Rabbental = Rebberg) sowie weitere Landgüter wie die namensgebenden Altenberg-, Lorraine- und Wylergüter. Im Bereich des heutigen Kursaals gab es in barocker Zeit eine Schanze als Aussenwerk der Stadtbefestigung. Sie war möglicherweise der Nachfolger eines mittelalterlichen Wachtturms. 1860 entstand dort ein Café-Restaurant mit einem Saal für Theateraufführungen, Konzerte und Feste, der zu einem beliebten Ausflugs- und Vergnügungsort wurde. Er war der Vorgänger der heutigen Anlage mit Hotel und Grand-Jeux-Casino.

Die landwirtschaftlich genutzte Hochebene nördlich und östlich des Aaretals wurde zwar seit 1758 von der Papiermühlestrasse durchschnitten, die als Verlängerung des damals erbauten Aargauerstalden errichtet worden war und am Wankdorfgut vorbei nach Nordosten Richtung Solothurn führte. Die Überbauung von Spitalacker, Breitenrain, Breitfeld und Beundenfeld setzte aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als die Areale dank des Baus des Altenbergstegs 1834, der Eisenbahnbrücke 1858 (heute Lorrainebrücke) und der Kornhausbrücke 1893 direkt mit der Stadt verbunden wurden. Ein grosser Entwicklungsschub kam durch die Verlegung der kantonalen Militäranstalten ab 1873, eine Tramlinie bis zum Breitenrainplatz folgte 1901.»
Geschichten aus dem Stadtteil V





Historische Aufnahmen aus dem Stadtteil V







Quelle: Plattform J, 25.07.2025, von Max Saladin, «Breitenrain-Lorraine: Trendig, politisiert und unter Druck»