«Mich interessiert diese seltsame Gattung»
Braun, schwarz, unscheinbar, aber da. Amseln hören und sehen viel. Und sie haben ein gutes Gedächtnis …

Ich bin eine hundsgewöhnliche Amsel. Eine jener Vögel also, die im Frühling recht viel Beachtung finden wegen ihres Gesangs, nach denen sich aber im weiteren Verlauf des Jahres kein Mensch mehr umdreht. Singen tun sowieso nur die Männchen, doch geht es jetzt nicht um Musik.
Ich drehe mich nach den Menschen um. Mich interessiert diese seltsame Gattung. Ich beobachte sie und ihre oft unbegreifliche Art. Manchmal amüsieren sie mich, nicht selten bin ich verwundert, oft packt mich ein komisches Schaudern. Ihre Lebensweise ist kompliziert, was die nicht alles brauchen, um durch die Tage zu kommen. Doch ich neige zur Schwatzhaftigkeit. Ich möchte ja von anderem erzählen. Wem überhaupt? Keine Ahnung. Ich sags in die blaue Luft hinaus. Die derzeit zwar etwas verhängt ist. «Diesig», hörte ich jemanden sagen, als ich im Breitschplatzpärkli auf einem der jungen Bäume sass und einwenig hörte und staunte. Ich meine, die Sprache der Menschen zu verstehen. Jedenfalls mache ich mir oft einen Reim auf das, was sie so von sich geben. In einem grossen Land weit weg, dort brenne der Wald, sagte ein Bub und weinte. «Tiere, Bäume und Menschen sterben.» Ja, Waldbrand ist schlimm. Ich geriet einmal in die Nähe eines brennenden Walds. Das Feuer sieht fürchterlich aus, und der dicke Rauch und die Hitze sind unerträglich. Ich hätte den Jungen gern getröstet, aber wie? Der Wind bringe Asche von diesem Brand weit über das Meer bis hierher, erklärte ein grösseres Mädchen. Die Erde sei ein blauer Planet und alles hänge mit allem zusammen. Das stimmt. Das Gift in der Landwirtschaft vernichtet Insekten und Käfer. Viele meiner Federgeschwister finden drumkeine Nahrungmehr. Sie sterben aus. So hängt eines vomandern ab.
Auf dem gleichen kleinen Platz, auf dem jetzt ein gebogener Brunnen plätschert und die Kinder zum Planschen verlockt, belauschte ich verborgen im Baum ein anderes Mal eine andere Runde. Es war ein Vorsommertag, die Leute trugen lange Ärmel, doch für einmal regnete es nicht. Ein Glück und sehr angenehm. Da passierte etwas, was ich noch selten sah: Die Leute kamen ins Gespräch. Ich war voll geheimer Erwartung, doch putzte ich erst mal meine Federn. Da ging es unten los. Eine alte Frau polterte lauthals, dass in diesem Quartier kein Sich-Zurechtfindenmehr sei. Kein Stein sei mehr auf dem andern. Sie wohne schon ein Leben lang hier und erkenne die Gegend nicht mehr. «Nume ruehig», antwortete einer, «so wild ist es nun auch wieder nicht.» Andere mischten sich ein und noch eh meine letzte Feder gefettet und gerichtet war, folgte unten Wort auf Wort.
Ich gebe der Alten recht, auch ich erkenne vieles nicht mehr. Auch mir fehlt der alte Baum im Kitagarten bei der Bahn. Eine ältere Frau aus der Runde beklagte, dass dieser Baum gefällt und das schöne Haus zertrümmert worden sei. Ja, schad. Ich sass gern versteckt in der Krone und schaute den Kindern beim Spielen zu, beim Streiten und Lamentieren. Ich sah die Pöstlerin auf das Haus zurennen, drin verschwinden – und schon war sie wieder weg mit ihrem surrenden gelben Fahrzeug. Die Frau fuhr jetzt nachdenklich fort: «Ja, im Wylerquartier werden Häuser abgerissen und hässliche neue gebaut. Die Leute, die bisher hier wohnten, viele von ihnen aus dem Ausland, die finden wohl in der Gegend keine bezahlbare Wohnung mehr.» Da lob ich mir mein Nest im Lebhag, dort zieh ich meine Jungen auf. Und nachher bin ich wieder frei.
Einer aus dem Kreis, ein rundlicher fröhlicher Mann, spottete in lustigemDeutsch: «Ja, auch die Lorraine liftet sich. Die Mieten steigen, ein neuer Schlag Leute hält Einzug. Und mit ihnen Mehrverkehr.» Etwas ernster fuhr er fort: «Ich wünsche mir ein autofreies Quartier, das wäre umweltfreundlich, heimeligund intim. Schön wie die Altstädte von Carcassonne oder Santorini.» Das Brocki sei inzwischen berühmt, es reisten Leute sogar aus Zürich an, um darin herumzustöbern. Eine Frau, vielleicht seine Frau, mischte sich nun auch ein: «Leider gibt es heute viel mehr Diebstahl und Einbrüche im Quartier. » Ein alterweisshaariger Mann mit ebenfalls interessantem Akzent beschrieb nun seine Sicht: «Es gibt viel mehr Junge hier. Macht nüt, ich passe zu denen.
Und wir waren auch einmal jung und machten Lärm und waren verrückt. Nur habe ich kaum noch Kontakt mit den Lorraineleuten. Früher war das ganz anders. Vielleicht bin ich jetzt zu alt. Häuser renovieren ist schon recht, doch sollten nicht Luxuswohnungen entstehen.» Ein Jüngerer, mit einer Bierdose in der Hand, setzte sich zu der Gruppe und hörte neugierig zu. Nicht langund er redete selber drauflos: «Es hat an der Moserstrasse und am Breitschplatz eine Million neuer Beizen gegeben. Wie sagte der olle Tschäppät selig: ‹Die Moserstrasse wird zur Champs-Elysée des Breitschs.› Nun tummeln sie sich hier, die schönen Reichen. Mit ihren Louis-Vuitton-Täschchen und den teuren Kinderwagen.»
Es war einen Moment lang still. Dann entgegnete eine jüngere Frau mit einem Buch auf dem Schoss entschieden: «Der neue Breitsch ist viel belebter. Es gibt mehr Beizli mit Aussenbestuhlung. Mehr Grün und mehr Wildpflanzen, mehr Insekten und mehr Vögel. Dank Tempo 20/30 sind weniger Autos unterwegs, doch unter ihnen mehr teure und grosse, die kaum durch die Strässchen passen. Die Mieten und der Kaffee sind teurer und da ist plötzlich viel mehr Tourismus, wegen Air B'n'Bs und Social Media Hot Spots. Es gibt mehr Einbrüche, Diebstähle und Littering. Aber endlich einen Buchladen im Quartier, Lebensmittel- und Blumenmärkte, mehr Kinder und viele ziemlich selbständige alte Menschen sind unterwegs. Die Bevölkerung ist jetzt weniger durchmischt, doch hat dieser Prozess schon vor zwanzig Jahren begonnen.»
Uff. Mir wurde ganz sturm. Eine andere Frau warf ein: «Ja, das Wylerviertel hat sein Gesicht in den letzten Jahren fast gänzlich verändert. Sanierungen, Neu- und Umbauten prägen das Quartier. ‹Gesamtrenovation›. Doch mich beschäftigen vor allem die Veränderungen, die noch kommen werden. Rund um die grossen Entwicklungsprojekte wie Wankdorfcity 3, WIFAG und Wankdorffeldstrasse. Bern Nord wird wachsen, ganze neueQuartiere entstehen, und es wäre schön, wenn diese lebendig und durchmischt würden, wie der bisherige Norden es war.» Genau, die Leuchttürme! Ich hatte von Leuchttürmen reden gehört und die Welt nicht mehr verstanden. Leuchttürme gehören doch ans Meer?! Dann begriff ich: Die Grossbauprojekte sollen ins ganze Land hinaus strahlen. So stellen die Planer es sich vor. Die Runde löste sich langsam auf. Schön, dass die Leute so langezusammensassen. Die meisten haben für so was keine Zeit, sie eilen durch die Gegend und schauennicht links und nicht rechts. Und ich, wenn mir alles zu viel wird, rette mich in den Wylerwald oder hinab an die Aare. Dort schau ich dem Wasser beim Fliessen zu und denke gar nichts mehr.
Aufgeschnappt von Katrin Bärtschi
P.S. In einer Hagebuchehecke baute ich ein kleines, geborgenes Nest. Es ist jetzt leer, die Jungen sind ausgeflogen. Ich habe Zeit und durchstreife mein Revier.