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Bern, Pasta und die Mafia

Herr Funiciello, würden Sie die SVP wählen?

Aufgewachsen in Süditalien mit zwölf Geschwistern, wurde Remigio als Jugendlicher an den Thunersee geschickt. Bald verschlug es den Vater von Tamara Funiciello in die Bundesstadt, wo er bis heute als Kleinwirt im Kulturzentrum «Breitsch-Träff» tätig ist. Zeitweise zog es ihn nach Nicaragua. In der Brust des 71-Jährigen schlägt nach wie vor das Herz eines Aktivisten – der Pensionär kämpft mit Lebensmitteln gegen die organisierte Kriminalität und plädiert für mehr Menschlichkeit.

Ben Abegglen
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Der 71-jährige Remigio Funiciello bezeichnet sich selber als «glücklicher Pensionär», zur Ruhe gekommen ist der Vater von SP-Politikerin Tamara Funiciello allerdings noch nicht.

«Alle Menschen sind hier willkommen», erklärt Remigio Funiciello. Der 71-Jährige bezeichnet sich selbst als «glücklicher Pensionär» – und doch scheint der gebürtige Süditaliener nicht zur Ruhe zu kommen. Als Kleinwirt im Kulturzentrum «Breitsch-Träff», im Berner Breitenrainquartier, habe er alle Hände voll zu tun. «Unser gemeinnütziger Verein organisiert Musikabende, Podiumsdiskussionen, und wir verkaufen an unserem Märitstand Produkte, die im Kampf gegen die Mafia helfen sollen.» Dazu später mehr.

Selbst ein junger SVP-Politiker habe dereinst den Weg in den Quartiertreffpunkt gefunden. «Es benötigt alle Seiten für einen sinnvollen Austausch.» Könnte sich Funiciello, der unter anderem Mitbegründer der «Brigada Latino Bernesa» ist, die Kleinprojekte der ländlichen Bevölkerung in Nicaragua unterstützt, auch vorstellen, die Schweizerische Volkspartei zu wählen?

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Ein Schmelztiegel von Kunst, Kultur und politischen Debatten: der «Breitsch-Träff» in Bern.Fotos: Ben Abegglen

Ein ganzes Poulet

«Cazzo!», entfährt es dem aufgeweckten Italo-Schweizer. «Ich denke nicht, dass die SVP meine Stimme braucht – sie ist bereits die stärkste Partei im Land.» Nach Mitgliederzahlen ist sie allerdings nur die drittstärkste (rund 70'000) – hinter der Mitte (rund 93'000) und der FDP (rund 120'000). Politische Macht und deren Verteilung sind ein Thema, das Funiciello seit seiner Kindheit zu begleiten scheint. Aufgewachsen in der Provinz Caserta in der Nähe von Neapel, musste das zweitjüngste von 13 Geschwistern bereits früh lernen, sich durchzusetzen.

«Das war auch später noch so – mit zwölf Jahren habe ich angefangen, als Maurer auf Baustellen zu arbeiten.» Diese Lebensphase sei «nicht schön» gewesen. «Wenn ich mich mit Gleichaltrigen getroffen habe, war ich stets der Aussenseiter, wenn sie über die Schule gesprochen haben.» Zu Hause galt es, «die Mäuler zu stopfen», doch bald wurde es eng für die Grossfamilie. «Das Essen wurde knapp, es war nicht einfach. Also hat mich mein Vater als 16-Jähriger in die Schweiz geschickt, nach Thun.»

Für seine Zugreise in die Schweiz hatten ihm seine Eltern ein Poulet zubereitet. «Sie haben es in vier Portionen eingeteilt, damit es für den ganzen Weg reicht.» Funiciello haut auf den Tisch und fängt an zu lachen. «Das ganze Huhn war in wenigen Bissen verschlungen – ein solches Festmahl hatte ich noch nie erlebt!» Der junge Mann aus Italien kam bei seinem älteren Bruder unter: «Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen.»

Angekommen am Thunersee, begann bald danach sein Job als Tellerwäscher. «Morgens musste ich den Schnee vor dem Restaurant wegschaufeln – damals hat es auch im Frühling viel geschneit», erinnert sich Funiciello, der beinahe erschaudert, als er an seine «sommerliche Kleidung im Gepäck» zurückdenkt. Die Arbeit machte dem eifrigen Einwanderer nicht viel aus, anders die landestypische Küche. «Ich musste Suurchabis probieren, mir kamen die Tränen.»

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Als Jugendlicher kam er nach Thun, danach ging es nach Schüpfen und später nach Südamerika: «Der Contra-Krieg in Nicaragua und die Auswirkungen waren schrecklich».

Ausgrenzung und Südamerika

Mit der Zeit gewöhnte sich Funiciello an die Schweiz und an den Chabis. Nach einigen Jahren zog es ihn nach Schüpfen, wo er eine Anstellung in einer Schreinerei fand. Damals lernte er seine heutige Ex-Frau und auch die Ablehnung gewisser Einheimischer kennen. «Sie wollten nicht, dass ein Italiener mit einer Schweizerin zusammen ist.» Mitte der Siebzigerjahre sei das gewesen. «Rassismus finde ich ein schwieriges Wort. Die Leute waren meist nicht wütend auf Italiener, weil sie Italiener waren, sondern weil sie eine starke Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt darstellten – dafür habe ich heute auch ein gewisses Verständnis.»

Funiciellos Leben bestand damals weitestgehend aus der Arbeit und seinem kleinen Zuhause in Form einer Baracke. «Ich lebte auf engstem Raum mit fünf Italienern. Das war eine sehr lehrreiche Zeit für mich.» Von seinen Mitbewohnern erfuhr der eifrige Einwanderer erstmals von CISAP (Centro Italo-Svizzero Formazione Professionale – heute ECAP), ein italienisch-schweizerisches Berufsbildungszentrum in Bern. Dort holte er seine schulische Grundbildung nach. Dann kam «Mama WIFAG».

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Am Märit werden beim «Breitsch-Träff» im Berner Nordquartier Lebensmittel verkauft, die im Kampf gegen die Mafia helfen sollen.

Bereits während seiner Ausbildung zum Dreher bei der WIFAG lernte Remigio viele Personen aus Südamerika kennen. «Sie haben mir sehr viel über ihre Heimat erzählt – vieles, das mich berührt hat.» Gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen engagierte er sich mehr und mehr für verschiedene südamerikanische Länder, trat Solidaritätskomitees bei und war 1984 einer der Mitbegründer der «Brigada Latino Bernesa», welche bis heute aktiv ist.

«Ich war häufig in Nicaragua. Es war schwierig, wir mussten auch Waffen tragen – allerdings nur, um die Kinder in den Hilfslagern zu schützen.» Der Contra-Krieg wütete, der zwischen 1981 und 1990 schätzungsweise 60'000 Nicaraguaner und Nicaraguanerinnen das Leben kostete. Nach dem Konflikt sollte Funiciello beim dort tätigen schweizerischen Arbeiterhilfswerk eine Stelle antreten. «Die Finanzierung kam leider doch nicht zustande. Was sehr schade war.»

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Sein Umzug nach Sardinien mache Funiciello bewusst, wie wertvoll die Schweizer «Bünzligkeit» sein kann: «Bereits beim Besuch einer Postfiliale macht sich das bemerkbar».

Neue, alte Heimat

Im Jahr 1990 kam schliesslich seine Tochter Tamara zur Welt, 1992 ihr Bruder Leandro. Mitte der 1990er-Jahre beschloss die Familie Funiciello, sich unter der Sonne Sardiniens niederzulassen, wo Remigio als Schuhmacher arbeitete. Damals habe er die Schweizer Mentalität, oder vielleicht auch die Bünzligkeit, schätzen gelernt. «Wenn in Italien ein Paket schnell versendet werden musste, dann stand ich drei Stunden in der Post. In der Schweiz dauerte das drei Minuten.»

Auch die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt bewegten den Familienvater dazu, in seine «neue Heimat» zurückzukehren. «Ich wollte nicht, dass aus meinen Kindern ein Remigio wird, die ihre schulische Ausbildung nachholen müssen.» Er selbst konnte bei der WIFAG wieder seine Stelle antreten. «Daher nenne ich sie Mama – die Firma war immer gut zu mir.»

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Der zweifache Familienvater schätzt sein Leben in der Bundesstadt – und organisiert nach wie vor zahlreiche Polit- und Kulturabende.

Doch auch nach seiner Pensionierung hat Funiciello alle Hände voll zu tun. «Wir verkaufen Lebensmittel, die im Kampf gegen die Mafia helfen.» Wer durch den Märit auf dem Berner Breitenrainplatz bummelt, stösst beim «Breitsch-Träff» auf Olivenöl, Wein oder Pasta. «Das kommt alles vom ehemaligen Mafia-Boden.» Funiciello bringt mit seiner Gruppe «Lupi solidali» Produkte der italienischen Kooperative Libera Terra in die Schweiz – Lebensmittel, die auf enteigneten Ländereien der Mafia biologisch und fair hergestellt werden.

«So entstehen Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen Süditaliens, fernab mafiöser Strukturen – eine wirtschaftliche Alternative zur Kriminalität.» Der Verkauf in Bern, fern von dem kriminellen Einfluss, unterstütze diese Sozialbetriebe direkt und zeige: «Auch bewusster Konsum kann ein politisches Statement sein.»

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Jeder sei im «Breitsch-Träff» in Bern willkommen, so der als Kleinwirt tätige Funiciello.

Quelle: Plattform J, 28.05.2025, «Herr Funiciello, würden Sie die SVP wählen?»

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