Dieser Artikel wurde von der «Berner Zeitung» zur Verfügung gestellt.

Schweizer Autopioniere

Vor 123 Jahren fuhren erstmals Autos auf den Gurten. Gebaut wurden sie im Berner Breitenrainquartier

Eine Ausstellung in Murten zeigt die Geschichte der Autobauer zwischen Bern, Biel und Neuenburg. Ein spannender Blick auf den Aufschwung und Niedergang einer Industrie.

Kaspar Keller (Text), Franziska Rothenbühler (Fotos)
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Museumsdirektor Leonard Riesen zeigt die Geschichte der Autoindustrie in Bern, Biel und Neuenburg. Foto: Franziska Rothenbühler

An einem sommerlichen Freitagabend versammelt sich eine Gruppe Schaulustiger vor der Gurtenbrauerei am Fuss des Berner Hausbergs. Drei kuriose Fahrzeuge stehen bereit, die aussehen wie Kutschen. Angetrieben wird das Gefährt jedoch nicht von Pferden, sondern von einem Motor «Made in Bern».

Es ist das Jahr 1902. Bei einer Probefahrt sollen drei der ersten Automobile aus der Werkstatt von Joseph Wyss auf den Gurten fahren und retour. Mit Autos hatte der 1868 geborene Unternehmer bisher noch wenig am Hut. Am Stockerenweg 6–8 im Breitenrainquartier leitet Wyss seine 1895 gegründete Kunstschlosserei.

«Die Kunstschlosserei Wyss hatte viele Auftraggeber in der Stadt Bern. Wyss hat unter anderem Objekte für das Bundeshaus gebaut», sagt Leonard Riesen, Direktor des Eisenbahn- und Sammler-Museums «das Depot» in Murten. Das Museum widmet eine Sonderausstellung den Motorfahrzeug-Pionieren des Dreiseenlandes, das in seiner Blütezeit zu einem der drei grossen Zentren der Schweizer Autoindustrie gehörte.

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Mit Stil auf den Gurten: Ein «Berna Ideal» aus dem Jahr 1902. Foto: Franziska Rothenbühler

Eines der Schmuckstücke der neuen Ausstellung ist ein «Berna Ideal», ein Automobil, hergestellt in Bern, das zuletzt in einem Depot im Verkehrshaus verstaubte. Beim «Ideal» handelt es sich um denselben Fahrzeugtyp wie die drei Fahrzeuge, die vor 123 Jahren zur Testfahrt auf den Hausberg aufgebrochen sind. «Es ging darum, zu beweisen, dass die Automobile auch einen steilen Weg auf den Gurten meistern können», sagt Riesen.

Höchstgeschwindigkeit: 35 km/h

Im Jahr 1900 besuchte Joseph Wyss die Weltausstellung in Paris, die mit über 50 Millionen Besucherinnen und Besuchern die erfolgreichste Ausstellung ihrer Zeit war. Während der Belle Époque waren Weltausstellungen der Ort, an dem die Bevölkerung den zivilisatorischen und technischen Fortschritt mit eigenen Augen bestaunen konnte. Bleibendes Zeugnis dieser Ära ist der Eiffelturm, der für die Pariser Weltausstellung 1889 erbaut wurde.

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Die Lenksäule mit dem Lenkbügel (oben), Gashebel (links oben) und Hebel zum Einstellen des Zündpunktes (links unten). Rechts ist der Hebel für die Gangschaltung. Foto: Franziska Rothenbühler

«In Paris hat Wyss den Ingenieur Charles Egg kennen gelernt, der beim französischen Unternehmen De Dion-Bouton gearbeitet hatte – damals der weltweit grösste Fahrzeughersteller seiner Zeit», sagt Riesen. Wyss vermochte Egg zu überzeugen, ihm nach Bern zu folgen und für ihn zu arbeiten. «Es verwundert nicht, dass die ersten Berna-Wagen gewisse Ähnlichkeiten mit den Fahrzeugen von De Dion-Bouton haben.»

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Der Berna Ideal verfügte über keinen Sicherheitsgurt, dafür über zwei Bremspedale. Foto: Franziska Rothenbühler

Beim Berna Ideal erkennt man dies etwa am Einzylindermotor und der De-Dion-Hinterachse, die teilweise noch heute unter diesem Namen verbaut wird. Das Offensichtlichste ist jedoch die sogenannte Vis-à-vis-Karosserie. «Die Automobile dieser Zeit waren Kutschen nachempfunden, bei denen man sich gegenübersass», sagt Riesen. Das Steuerrad respektive die Lenksäule wurde dabei von der Person hinten rechts bedient. «Der Berna Ideal erreichte eine Geschwindigkeit von 35 Kilometern pro Stunde und fuhr damals hauptsächlich über Pflastersteine oder Kieswege.» Autos und somit auch Verkehr gab es noch wenig.

Aufstieg und Fall der Schweizer Autoindustrie

In den folgenden Jahren erlebte die Schweizer Automobil-Industrie einen regelrechten Aufschwung. 1903 errichteten die Gebrüder Adolf und Max von Martini neben ihrer bestehenden Motoren- und Maschinenfabrik in Frauenfeld eine moderne Fabrikanlage in Saint-Blaise. «Im Jahr 1908 konnte man mit einem Martini-Rennwagen bereits 100 Stundenkilometer fahren», sagt Riesen. Martini war der grösste Schweizer Autoproduzent; bis zur Schliessung im Jahr 1934 wurden an den Standorten Saint-Blaise und Frauenfeld rund 3600 Fahrzeuge hergestellt. Gegen die Massenproduktion aus dem Ausland konnte sich die Schweizer Autoindustrie längerfristig nicht behaupten.

«Schweizer Autos galten als robust und technisch sehr gut, waren aber auch nicht ganz billig», sagt Riesen. Im Jahr 1914 bezahlte man für einen Neuwagen 12’000 Franken, was inflationsbereinigt etwa 365’000 Franken entspricht. «Es war nicht der einfache Arbeiter, der mit so einem Gefährt herumgefahren ist, sondern eher der Fabrikchef.»

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Berna konzentrierte sich später unter anderem auf den Bau von sogenannten Wechselaufbau-Lastwagen, die neben dem Transport von Waren auch zu Bussen umgebaut werden konnten. Foto: Franziska Rothenbühler

Für den Unternehmer Joseph Wyss verlief das Geschäft mit seinen Berna-Personenwagen nicht nach Plan. 1904 verlegte er die Produktion seiner Automobile in eine grössere Fabrik nach Olten. «Die Flucht in das organisationslose Olten sollte Herrn Wyss von der Gegenwart der Gewerkschaft befreien», wie die Gewerkschaftszeitung des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeitnehmer-Verbands zwei Jahre später schrieb. «Aber der Organisation seiner Arbeiter kann heute kein Unternehmer mehr entrinnen.»

Tatsächlich traten im Januar 1906 die Arbeiter in den Streik, nachdem Wyss mehr als ein Drittel des Personals entliess. Zuvor hatte Wyss sie unter Druck gesetzt: Austritt aus der Gewerkschaft oder Kündigung. «Wyss hatte gegen das neue Fabrikgesetz verstossen und zum Beispiel keine Schutzvorkehrungen beim Riemenantrieb angebracht», sagt Riesen. Ein Jahr später überwarf sich Wyss auch mit den Kapitalgebern und musste das Unternehmen verlassen.

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Vor 10 Jahren liess die Brauerei Felsenau ihren Berna-Lastwagen aus dem Jahr 1934 restaurieren. Foto: Urs Baumann

Die Marke Berna lebte indes weiter, fokussierte sich jedoch zunehmend auf den Bau von Lastwagen. «Berna in Olten gehörte neben Saurer in Arbon und FBW in Wetzikon zu den drei grossen Lastwagenherstellern», sagt Riesen. Im Jahr 1929 habe Saurer die Aktienmehrheit des Oltner Konkurrenten übernommen und produzierte ab 1939 nur noch typengleiche Lastwagen. Ende der 1970er-Jahre wurde das Werk in Olten geschlossen, und Mitte der 80er-Jahre gab Saurer auch die Produktion in Arbon auf. «Doch bis zum Schluss konnte man sich für die Marke Berna oder die Marke Saurer entscheiden, auch wenn es sich um dieselben Modelle handelte», sagt Riesen.

Der jüngste Museumsdirektor der Schweiz

Während Leonard Riesen spricht, schüttelt er Namen, Jahreszahlen und Details zur Bauweise der Motoren aus dem Ärmel. Wie sein Vater, der sich ebenfalls im Museum engagiert, trägt er Schnurrbart und Beret – man nimmt ihm seine 18 Jahre nicht ab.

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Das Stellwerk des Rangierbahnhofs Weyermannshaus 3 aus dem Jahr 1932 war noch bis im Jahr 2016 in Betrieb. Foto: Franziska Rothenbühler

Sein Interesse für die regionale Automobilproduktion wurde 2019 entfacht, als er die Modelleisenbahnanlage der Familie Wavre besichtigen durfte. «Ganz nebenbei sagte mir Jean-Jacques Wavre: ‹Dort hinten steht übrigens noch das Auto, das mein Vater 1916 gebaut hat.› Ich dachte, das kann doch nicht sein», sagt Riesen. 60 Jahre hatte es dort gestanden.

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Die originale Wavre-Voiturette aus dem Jahr 1916 (links), daneben die fahrtüchtige Replika mit Baujahr 2025. Foto: Franziska Rothenbühler

Im Jahr 2020 übergab die Familie Wavre die Voiturette dem Museumsverein als Spende. In den letzten Monaten hat Riesen eine fahrtüchtige Replika der Wavre-Voiturette gebaut. Wie der Berna fährt das Original nämlich nicht mehr.

Die Testfahrt vom Freitag, 13. Juni 1902, mit den drei Berna Ideal auf den Gurten war jedoch ein Erfolg. Am Montag darauf schrieb der «Bund»: «Am Freitagabend wurde eine neue Berner Industrie auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft. Mit einem kaum fertig montierten Automobil aus der Werkstätte des Herrn Wyss am Stockernweg wurde der Gurtenkulm erklommen. Mit einem 5,5-Pferd-Motor wurde der Fahrweg von der Brauerei am Gurten durch Gurtendorf über Gurtenkulm zum neuen Hotel genommen. In kurzer Zeit wird die erste Serie von 10 Wagen dem Handel übergeben.»

«Das Depot» ist jeweils Mittwoch und Sonntag von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppenführungen nach Anmeldung und Absprache via: www.dasdepot.ch

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