NELLY CASALUCI

«Ich bin drei Ländern verbunden»

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
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Mit dem Quartier verwurzelt: Nelly Casaluci. Bild: zVg

Ich wurde 1944 in Rotterdam geboren. Ich habe einen Bruder, meine Eltern sind leider, aber natürlich, schon lange gestorben. Sechzehnjährig kam ich als Au-pair nach Bern, lernte nach einem Jahr meinen Mann kennen und blieb. Ich nähe fürs Leben gern. Mit dem Geld, das ich als Au-pair verdiente, erlaubte ich mir verschiedene Kurse und wurde Schneiderin.

Am Anfang gefiel mir die Schweiz nicht unbedingt. Sie dünkte mich so dörflich im Vergleich zur Grossstadt Rotterdam. Aber da ich meine grosse Liebe traf, blieb ich. Mario kam aus Lecce in Süditalien. Er war alleine hier und ich war alleine hier und so zogen wir zusammen, so jung wir auch waren. Zuerst wohnten wir in einem Zimmer in der Marktgasse. Als der Vermieter merkte, dass wir zu zweit und unverheiratet waren, schmiss er uns raus. Wir fanden dann eine Wohnung in Ostermundigen, zwar teuer, aber wir schafften es. Wir heirateten und bald kam Salvatore auf die Welt. Ich war Änderungsschneiderin in Heimarbeit für verschiedene Berner Boutiquen und einmal korrigierte ich für einen Grossisten ein paar Hundert falsch genähte Gilets. Für das Lindenhofspital verfertigte ich über zweihundert Duvetanzüge. Mein Mann schnitt die Stoffbahnen und ich verarbeitete sie, am Abend, wenn der Bub schlief.

Mario war von Haus aus Mosaiker und Plattenleger. 1973 kam unser zweiter Bub Patrick auf die Welt. 1971 waren wir an den Stockerenweg im Breitenrain gezügelt, später zogen wir an die Standstrasse und 1984 kauften wir unser Haus, das mein Mann renovierte. Es war verlottert. Damals machte Mario sich beruflich selbstständig.

1976 eröffnete ich die Boutique am Breitenrainplatz 42.

Der Grosslieferant mit den Jeansgilets hatte mich gefragt: «Warum machen Sie sich nicht selbstständig? Ich kann Sie beliefern!» Ich besprach mich mit meinem Mann. Und ja, dann bekamen wir den Laden, halb im Soussol. Zu einem ganz günstigen Zins. Zwischen mir und meiner Kundschaft entwickelte sich eine gegenseitige Sympathie und so konnte ich einen guten Kundenkreis aufbauen und mich 1981 am Breitenrainplatz 28 vergrössern.

Mario machte den ganzen Innenausbau, er war eben ein Handwerker, der alles konnte. Wir hätten kein Geld gehabt, um die Einrichtung zu finanzieren. Wir teilten uns die Arbeit, auch das Einkaufen und die Kinderbetreuung. Sonst hätte es gar nicht funktioniert. Wir waren in die Schweiz gekommen ohne nichts und bauten alles gemeinsam auf.

Ich war immer gern Verkäuferin! Salvatore ist da genau gleich. Er führt eine Kellerboutique in der Marktgasse und auch er hat viel Herz für das Geschäft und immer ein offenes Ohr für die Kundschaft. Ich selber habe oft Kundinnen auf einen Kaffee eingeladen. So sind bleibende Freundschaften entstanden. Viele kamen aus Sympathie zu mir in den Laden. Anders als in der heutigen Zeit, wo die Geschäfte vor allem von Laufkundschaft leben. Einige Kundinnen sagten mir anlässlich der Geschäftsschliessung 2016: «Nein, das können Sie nicht machen! Wo soll ich denn nun hin?» – Dabei ist die Stadt ja voller Boutiquen. 

Nachdem ich Salvatore auf die Welt gebracht hatte, arbeitete ich Teilzeit bei Spengler als Verkäuferin. Eine liebe italienische Frau schaute zu meinem Sohn, als sei er ihr eigenes Kind. Ich blieb acht Jahre bei Spengler, zuletzt war ich Rayonleiterin. Dreimal hatte ich gekündigt, dreimal bettelte der Chef richtiggehend, dass ich noch bleiben solle. Ich war zwar Schneiderin, nähte auch viel für die Kinder, aber in meinem Herzen war ich eben Verkäuferin. Die dritte Kündigung hielt ich aber ein: Ich wollte mich selbstständig machen. Mein Chef wünschte mir zum Abschied alles Liebe und Gute. 

Ich brauchte weitere Lieferanten! Ich fand welche hier in Bern, in Zürich und später auch in Italien und Paris. Und nach einem Jahr erhielt ich als Erste in Bern die Marke «esprit». So entwickelte sich unser Geschäft. Zur Boutique am Breitenrainplatz 28 gehörte eine kleine Küche, die Kinder konnten nach der Schule hier zu Mittag essen und die Hausaufgaben machen.


«Mit meiner Kundschaft entwickelte ich eine gegenseitige Sympathie.»


Damals trug ich Grösse 50. Im Geschäft fokussierte ich mich auf grosse Grössen. Wer solche trägt, fühlt sich wohler, wenn auch die Verkäuferin nicht spindeldürr ist. «Wenn dir das chöit trage, de chanis o.» Ich führte Damen und Herrenmode. 2016 fanden wir, jetzt sei es Zeit fürs Aufhören, wir waren beide siebzig. Ich hätte noch weitergemacht, aber Mario meinte, wir sollten nun einen Schlussstrich ziehen. Ich fiel schon in ein Loch, die Boutique war mein drittes Kind gewesen. Aber wir wollten nun mehr zusammensein, unser Ferienhaus in Salavaux geniessen und reisen. Ich ging immer sehr gerne nach Süditalien. Ich fühle mich dort zu Hause. Genauso wie in Holland. Meine Schwiegerfamilie ist sehr warmherzig.

Mein Mann war schon mehr auf sein Land fokussiert als auf Holland. Er fand immer, die Holländer seien anders, laut. Das stimmt schon. Wir sind da! Wir sind laut! Mit meiner Heirat hatte ich auch die italienische Nationalität erhalten, aber ich bin stolze Holländerin geblieben. Mein Herz ist in Holland, so gern ich in der Schweiz lebe. Wir haben hier in Bern einen holländischen Club, wir gehen einmal pro Monat zusammen essen, am Königstag ziehen sich alle orange an und singen «Wilhelmus». Meine Söhne sind nach beiden Ländern ausgerichtet. Wenn Holland gegen Italien Fussball spielte und Italien besser war, setzten sie sich neben den Papi. Machte Holland ein Goal, sassen sie bei mir.

Ja, ich bin drei Ländern verbunden. Ich mag die Schweiz. Aber die Berge machen mir Angst. Unsere Kinder gingen jedoch in die Skischule, wir wollten, dass sie sich wohlfühlen in den Bergen.

Schwizerdütsch. Ich wusste sofort: «Ich will mich anpassen und die Sprache und Kultur der Schweiz lernen.»

Die Brillen. Als ich mit Salvatore schwanger war, hatte ich Spitzen Blattern. Die Erkrankung schlug mir auf die Augen, ich musste ab da eine Brille tragen. Ich war zwanzig und mit einer Brille kam man sich daneben vor. Also sagte ich mir: «Ich will eine Brille mit speziellem, auffälligem Gestell!» Dafür wurde ich dann bekannt.

Als Mario vor zwei Jahren starb, hinterliess er eine grosse Lücke. Wir waren insgesamt vierundsechzig Jahre zusammen. Jetzt bin ich allein und doch nicht allein. Ich habe und fünf grossartige Grosskinder. Meine Söhne kümmern sich sehr um mich. Sie führen mich aus und schenken mir Rosen zum Muttertag. Sie besuchen mich regelmässig, dann reden wir und wenn ich Probleme habe, sind sie sofort zur Stelle. Es ist schön, ich habe eine gute Beziehung zu meinen Kindern.

Das Nordquartier habe ich sehr gerne. Ich bin hier verwurzelt, die ganze Gesellschaft gefällt mir. Die Einfachheit. Ich mag natürliche Menschen.

Meine Träume sind mit dem Verlust des Mannes vergangen. Ich fiel in ein tiefes Loch, aber jetzt bin ich am Zurückkehren ins Leben. Ich bin schon nicht mehr die, die ich war. Ich war immer laut, selbstsicher, lebensfreudig. Und mein Mann war mein Angelpunkt. Aber ich will nicht als trauriger Mensch wirken. Auch wird ja gut zu mir geschaut, täglich wird nachgefragt, wie es mir geht. Also: Kopf hoch!

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