Halima Zourz

«Ich erzähle mit dem Herzen»

Ein sonnendurchflutetes Frühlingszimmer, die kleine Ranya auf dem breiten, einladenden Sofa. «Es ist Ramadan, ich habe ein bisschen Mühe, mich zu konzentrieren.» Davon ist nichts spürbar, als Halima erzählt.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
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Erzählt mit und aus dem Herzen: Halima Zourz. (Bild: zVg)

Ich habe zwei Schwestern und wir lebten mit unserer Mutter in Marokko. Der Vater ist 1992 gestorben. Er war Metzger und fuhr mit dem Taxi zur Arbeit, dann gab es einen grossen Unfall mit einem Bus. Ich war neun Jahre alt. Das war sehr schwer und nachher habe ich immer mit meiner Mutter zusammen die Verantwortung übernommen. Meine Mutter war schwanger mit meinem kleinen Bruder, als das passiert ist. Wir wohnten in Rabat. Trotz allem haben wir auch viel gespielt. Fussball, Seilspringen, Himmel und Hölle. Der Bruder meiner Mutter und die Grosseltern unterstützten uns nach dem Tod des Vaters. Ich ging bis ein Jahr unter dem Gymnasium zur Schule und lernte dann Modeschneiderin. Mein Wunschberuf – aber nach der Lehre arbeitete ich zwölf Jahre in der Fischfabrik meines Onkels.

In Afrika arbeiten wir auch am Abend. Ich habe die Fische gewogen, eingepackt und für den Export nach Europa bereitgemacht. Später arbeitete ich in Kenitra, einer andern Stadt, in einer Bäckerei, dann als Immobi lienverkäuferin und Möbelverkäuferin für Ikea. Den Kontakt mit der Kundschaft hatte ich wirklich gern. Nachher war ich zehn Jahre beim Einwohnerregister der Gemeinde Khémisset. Das war meine liebste Arbeit. In der Fabrik und in der Bäckerei war e chli Schtress und lange Arbeitszeiten, im Büro arbeiteten wir von halb neun bis vier.

In Marokko suchst du immer wieder eine Arbeit. Die Bäckerei war nicht so gut bezahlt. Bei Ikea war der Lohn gut, bei den Immobilien nicht so. Also, wenn ich gute Arbeit finde, wechsle ich. Während der Lehre gab es kein Geld, aber nachher konnte ich die Familie auch finanziell unterstützen. Meine Schwester Hanan besuchte die Universität und heiratete dann nach Spanien. Karima, die Kleine, lebt auch in Spanien. Mein Bruder machte nach dem Gymnasium eine Ausbildung als Techniker und ging nach München an die Uni. Die Mutter lebt jetzt ohne uns in Marokko.

2013 habe ich Mohammed kennengelernt. Sein Bruder war mein Nachbar. 2015 kam ich in die Schweiz, wir hatten geheiratet. Der Winter war für mich ein Problem, in Marokko ist es immer warm, ich wurde krank. Aber es hat funktioniert. Die Sprache war schwierig, die Kultur anders. Aber ich wollte lernen und wissen und Mohammed half mir. «Du musst einen Deutschkurs machen, dann kannst du das und das unternehmen.» Aber in Marokko hatte ich meine Arbeit gehabt und hier hatte ich keine. Ich war ohne Familie hier. Ohne Kollegen und Kolleginnen. Manchmal dachte ich: «Ich gehe zurück!» Aber Mohammed war lieb und gab mir Motivation: «Du brauchst Zeit, Schritt für Schritt.» Wir sind auch gereist, in Frankreich, in Italien, in Deutschland. Das war gut. Und für mich sehr wichtig: Die Schweizerinnen und Schweizer sind gute Leute. In Spanien habe ich Rassismus erlebt. Hier nicht. Die Leute lachen und helfen und haben Respekt. Ich lernte die Differenzen kennen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, Versicherungen, Krankenkasse, Freiheit. Jede Person konzentriert sich auf ihre Sachen, nicht auf das, was die andern machen. In Marokko ist es auch okay, aber nicht wie hier. Die Sicherheit. Du kannst hier am Abend spät arbeiten und musst keine Angst haben. Und alle sechs Minuten gibt es ein Tram. Das schwierige Thema Pünktlichkeit … Das macht Druck, aber das System ist halt so. Am Morgen früh im Bahnhof sind alle immer schnell, das ist schwierig. Aber mit der Zeit ist es okay, denke ich.

In Marokko haben alle ein Auto. Wir warten lange bei den Ampeln. Es gibt auch Busse und Taxis und seit Kurzem das Tram. Es gibt nicht diese Stimmung von Stress. Wenn ich zur Arbeit oder zum Termin zu spät komme, dann komme ich eben zu spät. Man muss nicht telefonieren wie hier. Dann kommt halt ein anderer Patient vorher dran.

Hier an der Schärerstrasse ist es sehr schön. Wie in Marokko, die Nachbarinnen, die Kolleginnen. Und Mohammed kennt vom Geschäft her viele Leute. Immer «Hallo, wie gehts?» Seit ich hier bin, koche ich im Breitschträff. Am ersten Donnerstagabend im Monat gibt es dort nun «Marokko Spezial». Ich gebe mein Herz hin beim Kochen. Auch am Herzogstrassenfest, wo immer viele Leute kommen. Die marokkanische Küche kennt viele Gewürze und das Kochen braucht viel Zeit. Die schweizerische Küche, Raclette und Rösti, kenne und mag ich auch.

2019 kam Leya auf die Welt, meine Tochter. 2023 dann Ranya, auch im November. Mit den Kindern lebst du gerne hier. Durch sie habe ich neue Leute kennengelernt und wir unterstützen einander wie eine Familie. Die Töchter lernen in der Kita Schweizerdeutsch. Ich spreche mit ihnen nur Marokkanisch, Mohammed auch Französisch und Schweizerdeutsch. Wir gehen auf den Schützenwegspieli, auf die Kasernenwiese oder zur Markuskirche. Auch primamo ist in der Nähe, im Winter, wenn es kalt ist, gehen wir dorthin. Der Hausarzt ist auch im Quartier.

Ja, jetzt ist es gut für mich, in der Schweiz zu leben. Jedes Land hat seine positiven Sachen. Durch die Kinder sind wir nicht mehr so auf Marokko konzentriert, wir müssen jetzt hier schauen. Nur zu Hause zu bleiben ist nicht gut. Darum habe ich vier Jahre mit Mohammed im Haushaltelektrogeschäft gearbeitet. Ich habe gelernt, Bügeleisen- und Rasierapparatservice zu machen und die Post. In der Coronazeit war ich arbeitslos. Dann wollte ich noch andere Erfahrungen machen, sprachlich – und auch aus finanziellen Gründen. Ich besuchte einen Deutsch- und einen Computerkurs. Und fand Arbeit als Verkäuferin. Aber es funktionierte nicht mit dem Feierabend: Acht Uhr ist zu spät für die Kinder. Ich begann in der Reinigung im Inselspital, wo ich jetzt im Monatslohn angestellt bin. Zuerst zu achtzig Prozent, seit Ranya da ist sechzig. Ich würde gerne einen Kurs als Pflegeassistentin machen, wenn Ranya dann ein bisschen grösser ist. Viele Kolleginnen aus der Reinigung haben in die Pflege gewechselt. Aber Abendschichten oder Doppelschichten – mit Kindern geht das nicht. Viele Frauen arbeiten schon zwanzig Jahre in der «Insel» in der Reinigung. Wir haben Kontakt mit den Pflegerinnen, die Chefinnen sind nett und es gibt Respekt. Wir habe auch viel Kontakt mit den Patientinnen und Patienten. Es ist gut.

Die Schweiz ist mein zweites Land. Die Töchter sind hier geboren, wir leben jetzt hier. Und das ist gut.

Wir gehen jedes Jahr nach Marokko in die Ferien und meine Mutter war nach der Geburt der Kinder drei Monate bei uns. Sie sagte: «Es gibt hier viel Stress.» Auch der Besuch aus Spanien sagt: «Es gibt hier mehr Stress als bei uns.» Ich denke, in der Schweiz und in Deutschland ist das so.

Ich habe mit dem Herzen erzählt, ich will nicht etwas darstellen, sondern erzählen, wie es ist. Wir leben jetzt hier. Zum Glück hatte ich keine grossen Probleme mit der Integration, ich habe rasch Deutsch gelernt und ich habe in Marokko in der Hauptstadt gelebt, da habe ich einiges Internationale schon kennengelernt.

Ein Traum. Alle Leute leben in Frieden. Und auch: Gesundheit ist alles. Wenn du keine Gesundheit hast, hast du nichts, kein Leben.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

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