Freilichtmuseum Nordquartier
Dieses Museum hat immer offen und verändert sich ständig: Im Nordquartier wimmelt es von Kunstobjekten im öffentlichen Raum. Manche geniessen weltweite Aufmerksamkeit.
Bern verfügt bekanntlich über einen vielfältigen Museumskosmos, der sich räumlich vor allem um den Helvetiaplatz ballt. Mit Spannung wird nun die Bilanzziehung zum Ende der vierjährigen Aufbauphase des Projektes «Museumsquartier » erwartet, bei dem elf Institutionen im Kirchenfeld, vom Naturhistorischen Museum bis zum Stadtarchiv, noch stärker zusammenwachsen wollen. Gar internationale Ausstrahlung geniessen das Kunstmuseum an der Hodlerstrasse – das bis 2033 für rund 150 Millionen erweitert werden soll – und das Zentrum Paul Klee am Ostrand der Stadt. Mit vielen Museumsstandorten kann das Nordquartier, abgesehen vom Botanischen Garten, dem YB-Museum und der Bibliothek am Guisanplatz, nicht aufwarten. Doch ist das Quartier ein wichtiger Bestandteil des grössten Museums der Stadt, an dessen Schätzen wir oft achtlos vorbeilaufen, weil sie uns durch die alltägliche Nähe scheinbar vertraut sind: Die Kunst im öffentlichen Raum ist eine alle herkömmlichen Museums- Normen sprengende Schau, die sich an keine Öffnungszeiten halten muss und kostenlos zugänglich ist. Als Gefahren drohen einzig ein Regenguss oder Sonnenstich.
Geordnet und registriert
So lose verstreut und schwierig zu finden die Werke zum Teil auch erscheinen, sind sie doch genaustens verzeichnet und minutiös beschrieben. Diese Informationen sind nicht nur Experten zugänglich. Im Online- Stadtplan map.bern.ch/stadtplan findet sich die entsprechende Karte unter dem Thema «Freizeit, Sport, Kultur». Die auf der Übersicht erscheinenden Zeichen geben an, ob sich die Werke in städtischem oder anderem Besitz befinden. Auch gibt es seit 2019 sechs verschiedene «KunstStadtSpaziergänge», von denen einer in die Lorraine führt. Broschüren dazu gibt es gratis bei der «Tourist Information» im HB oder auf bern.ch unter dem Suchwort «Kunst im öffentlichen Raum».
Geführt wird das Inventar von der städtischen Kunstsammlung. Sie berät die Eigentümer bei Fragen des Unterhalts und bei Planungs- oder Bauprojekten. Bei anfallenden Sanierungen, Adaptionen oder Rückbauten bestehender Kunstwerke nimmt die Kommission Kunst im öffentlichen Raum (KiöR), bestehend aus internen und externen Fachleuten, Stellung zu den geplanten Vorhaben. Die Kommission lanciert auch zeitlich befristete Kunstprojekte im öffentlichen Raum. «Bei den Kunstwerken im Stadtraum handelt es sich vielfach um Kunstbesitz der Stadt, aber auch des Kantons, des Bundes, der Burgergemeinde, von Kirchgemeinden, Wohngenossenschaften oder Firmen und Privatleuten », sagt Annina Zimmermann, Fachspezialistin Kunst im öffentlichen Raum bei der Stadt Bern. «Neue Werke für den Aussenraum gelangen punktuell in den Kunstbesitz der Stadt durch Schenkungen und Leihgaben, bei Kunst- und Bau- Wettbewerben organisiert durch Hochbau Stadt Bern oder bei Wettbewerben, welche die Kommission ausschreibt.» Für die Auswahl von neuen Standorten sowie der Künstlerinnen und Künstler gibt es gesetzliche Grundlagen, ebenso für den Budgetrahmen. Massgebend dafür sind das Reglement über die Spezialfinanzierung von 2017 und die KiöR-Richtlinien von 2023. «Für Unterhalt und Pflege neuer, aber vor allem der historischen Werke ist jene Stelle zuständig, welche überhaupt für die entsprechende Parzelle verantwortlich ist. In Parks und Gartenanlagen ist dies Stadtgrün Bern, im Grauraum das Tiefbauamt, bei Vorplätzen und Ähnlichem Immobilien Stadt Bern.»
Die Klangbrücke als Magnet
Dass auch die Kunst im öffentlichen Berner Raum internationale Anziehungskraft besitzt, wird augenfällig, wenn an Wochenend-Nachmittagen junge Touristen aus Amerika oder Asien andächtig über die «Klangbrücke » bei der Gewerbeschule schreiten und die Umgebung fotografieren. Die Brücke ist Teil des Erweiterungsbaus von 1999 des diesen April 89-jährig verstorbenen Berner Architekten Frank Geiser. Die zugehörige Klanginstallation «Suspended Sound Line» stammt von USSoundkünstler Max Henry Neuhaus (1939–2009), dessen berühmtestes Werk «Times Square» am Ende eines Trottoirs in Manhattan zu finden ist. Nicht nur Neuhaus und Geiser sind mit ihren Werken weltweit in Architekturführern verzeichnet, sondern mit dem Corbusier-Schüler Hans Brechbühler (1907–1989) auch der Schöpfer des zwischen 1937 und 1939 entstandenen Hauptgebäudes.
Im nächsten Umkreis der Gewerbeschule befinden sich mehrere erwähnenswerte Kunstwerke. So auf dem Rasen vor dem Hauptgebäude eine «C-Figur» des Eisenplastikers Bernhard Luginbühl (1929–2011) aus seiner frühen Schaffensphase zwischen 1958 und 1964. Wenige Meter entfernt befindet sich der «Lorraine- Ring» aus Beton von Vaclav Pozarek (84) von 1980. Und im ebenerdigen Teil des Gebäudes steht der Brunnen mit der Bronze-Plastik «Männlicher Akt» von Walter Linck (1903– 1975), der auch die Söldnerfigur auf dem Bärenplatzbrunnen schuf.
Wer es gründlich nimmt, beginnt seine Kunst-Tour de Lorraine schon weiter vorne bei der Schützenmatte anfangs der Brücke. Die Figuren aus Muschelkalk, die die beiden Seiten flankieren, stammen von Paul Kunz (1890–1959) aus dem Jahr 1936. Links die weibliche Figur mit Reh, rechts die männliche Figur mit Hund. Wer sich nun auf der rechten Seite hält, wird mit dem Anblick von Willy Vuilleumiers (1898–1983) «Gazelle » von 1935 über dem Seiteneingang des Botanischen Gartens belohnt. Beim Weitergehen lohnt sich ein Abstecher zur Schule für Gestaltung, wo auf der hinteren Terrasse der «Doppelkelch» steht. Die wuchtige Eisenplastik aus dem Jahr 1972 stammt von Jimmy F. Schneider (1923–1995), einem Jugendfreund von Bernhard Luginbühl, der ihm das Schweissen beibrachte und ihm bei umfangreicheren Arbeiten assistierte. Beizengänger kennen Schneider vom Wandbild über dem Stammtisch im «Falken» an der Münstergasse her, einer Persiflage auf Leonardo da Vincis Wandgemälde «Das letzte Abendmahl» von Herbert Distel (82). Jesus und seine Jünger sind dort Schneider und seine «Falken»-Clique aus jener goldenen Zeit, als der Künstler das Lokal täglich als eine Art Aussenbüro in Beschlag nahm und sich sogar seine Post dorthin schicken liess.
Der «Lederstrumpf» und das ominöse ABC-Wandbild
Doch wir sind hier auf Kunst- und nicht auf Beizentour und unser Weg führt von der Schule für Gestaltung über die Strasse wieder ins Quartier hinein und die Lorrainestrasse entlang. Im Hof des Lorraine-Schulhauses fällt Beat Fellers (69) Werk «innen zu aussen» auf, das 2017 bei der Renovation des Gebäudes aus früheren Granit-Treppenstufen entstand. Beim Eingang zum Schulhaus Steckgut am Ende der Strasse befindet sich das Kupferrelief «Lederstrumpf » von Serge Brignoni (1903–2002) zu Ehren von James Fenimore Cooper (1789–1851), Autor der bekannten gleichnamigen Romanreihe, der vor 200 Jahren kurzzeitig hier wohnte. Ob Cooper wirklich in Bern an seinem Werk schrieb, lässt sich nicht mehr eruieren. Eine Texttafel jüngeren Datums erwähnt, dass «die Erzählung und das Kunstwerk mehr mit unseren eigenen Ideen und Wünschen zu tun haben als damit, wie die indigene Bevölkerung in Nordamerika tatsächlich lebt». Es ist ein prophylaktischer Ansatz, um Diskussionen zu begegnen, wie sie ab 2019 um das unweit von hier im Schulhaus Wylergut angebrachte Wandalphabet von Eugen Jordi (1894–1983) und Emil Zbinden (1908–1991) von 1949 entbrannten. Die Stadt Bern schrieb als Eigentümerin einen Wettbewerb über eine Neugestaltung aus. Währenddessen übermalten Aktivisten 2020 die drei nicht mehr zeitgemäss illustrierten Buchstaben C, I und N. Das Wandbild wurde schliesslich konservatorisch aus der Wand geschnitten, restauriert und im März dieses Jahres ins Historische Museum transportiert, wo es fortan Teil der Sammlung ist. Bis Juni 2025 bildet es das Kernstück der begleitenden Ausstellung «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern».
Schulgebäude werden als Kunstort wohl aus erzieherischen Gründen besonders gerne gewählt. Im Wylergut erwähnenswert sind nebst dem nun entfernten Wand-ABC auch das mit einer Wanduhr verbundene Tierkreis-Sgraffito und das Fresko «Zoo» auf der Aussenwand neben dem Hauseingang von Rudolf Mumprecht (1918–2019), der einen Teil seiner Ausbildung an der bereits erwähnten Schule für Gestaltung absolvierte. Ein weiteres bemerkenswertes Schulhaus-Kunstobjekt neueren Datums befindet sich an der Hoffassade des Breitenrain- Schulhauses, die Installation «Weitwürfe » von Kotscha Reist (61) und Sybilla Walpen (55) von 2007. Unterwegs in der Lorraine stossen wir auch auf Kunstwerke abseits des städtischen Inventars. So auf das beeindruckende Wandgemälde an der Quartiergasse vis-à-vis der «Brasserie». Und im ganzen Nordquartier verteilt lassen sich an Lampen- und Signalstangen mit etwas Spürsinn kleine grüne Metalltafeln finden. Die 25 Objekte stammen von Tine Melzer (46) und beinhalten kurze, aber raffinierte Sätze wie «Die Rettung naht immer nur» – als Beispiel zu finden beim BKW-Sitz am Viktoriaplatz. Wer mehr von Melzer lesen möchte: Sie hat letztes Jahr ihren Debütroman «Alpha Bravo Charlie» veröffentlicht.
Der Rosengarten als Kunst-Hotspot
Besonders reich an Kunst-Trouvaillen ist auch der Bereich um den Rosengarten. Angefangen beim prägnanten roten «Tell» aus der Hand von Bernhard Luginbühl, der seit 1970 auf Wunsch des Architekten der früheren PTT-Generaldirektion, Theo Hotz (1928–2018), vor der Schönburg steht und nun die Hotelgäste und Liegenschaftsbewohner begrüsst. 200 Meter entfernt vis-à-vis dem Seiteneingang zum Rosengarten prangt an der Laubeggstrasse 10 das Wandbild «Orpheus mit Tieren» aus dem Jahr 1950 von einem Künstler namens Grimm, dessen Vorname nunmehr unbekannt ist. Er hat auch dasjenige Bild an der Hausnummer 2 geschaffen – ein junges Paar, das einen wachsenden Baum betrachtet. Nur wurde dieses leider vor vier Jahren im Zuge einer Wärmesanierung durch eine neue Aussenschicht überdeckt. Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross war damals zwar nicht «amused». Doch weil sich das Haus nicht im Bauinventar befand, war es inklusive des Gemäldes auch nicht geschützt und er konnte nicht eingreifen. Im Rosengarten selber erwähnenswert sind nebst der ganzen Anlage etwa «Der gute Geist» von Hedwig Hayoz-Häfeli (1935) von 1978, die opulente Teichanlage von 1918 von Karl Hänny (1879–1972) mit den Grossfiguren «Europa auf dem Stier» und «Neptun» oder die Gotthelf-Büste aus dem Jahr 1933 von Arnold Huggler (1894–1988) im Garten des Lesepavillons.
Die Fülle und Vielfalt an Kunstobjekten im öffentlichen Raum ist also immens und ermöglicht inspirierende Spaziergänge zu jeder Zeit. Und die Objekte verändern sich in Nuancen stetig. Dank dem wechselnden Wetter und der unterschiedlichen Sonneneinstrahlung zeigen sie sich buchstäblich immer wieder in neuem Licht. Dazu gibt es fortlaufend Bewegung in den Hintergründen und in der Umgebung der Objekte. Das Nordquartier ist ein einziges grosses Museum, das nie Staub ansetzt.