Brot und Spiele
Wer aktuell ein Fussball-Public-Viewing finden will, muss länger suchen als auch schon. Hier eine kleine, unvollständige und völlig subjektive Orientierungshilfe fürs Nordquartier.
Früher wurden Schülerinnen und Schüler auf Sekundarstufe bereits im Alter von 13 oder 14 Jahren mit Latein gequält. Das Zitat «Panem et circenses» aus einer Satire des Dichters Juvenal aus dem ersten Jahrhundert nach Christus ist etwas vom Wenigen, was uns davon geblieben ist und uns immer wieder in den Sinn kommt, wenn ein Fussball- Grossereignis naht. Unterhaltung, die alle Sinne kitzelt, hat bis heute nichts von ihrem Reiz verloren. Waren es in Rom noch Wagenrennen oder Gladiatorenkämpfe, sind es heute Sportveranstaltungen. Fussball-Public-Viewings sind allerdings eine relativ junge Modeerscheinung. In den 1980er-Jahren wäre in der Schweiz auch mangels Pub-Kultur noch kaum ein Wirt auf die Idee gekommen, seinen Gastgarten mit Fähnchen zu schmücken und eine Grossleinwand aufzustellen. Erst als die Nati Mitte der 1990er «cool» wurde, Alain Sutters Haare im Wind flatterten und dank dem «Stop it, Chirac!»-Transparent von 1995 sogar links-grüne Kreise und Intellektuelle ihre Abneigung vor dem «Kommerzgeschäft» partiell ausblendeten, waren solche Angebote überhaupt ein Thema. Und je nach Paarung und Spielausgang auch für den Umsatz interessant. Wir erinnern uns gerne an magische Nächte im «Serini» an der Lorrainestrasse. 2014 stieg dort mit dem WM-Final die allerletzte Fussballparty, bevor das Garagenareal einem Wohnneubau weichen musste.
Zehn Jahre sind seither vergangen. Und die Goldgräber-Stimmung bei den Public Viewings ist nach einem zunehmenden Überangebot ab der Jahrtausendwende routiniertem Realismus gewichen. Lieber gar nichts machen, als auf die Nase zu fallen, heisst nun die Devise. Zumal in manchen Köpfen seit der Pandemie immer noch rumgeistert, dass es suboptimal ist, wenn Menschen eng beieinanderstehen und einem der Barnachbar immer wieder ins Bier niest. Realistisch gesehen rechnen sich für die meisten Veranstalter vor allem die vier oder fünf Schweizer Abende. Dazu kommen als Risikofaktoren das Wetter, konkurrenzierende Kulturangebote, die aktuelle Konsumentenstimmung und der Umstand, dass die Nati seit längerem nicht mehr ganz so beliebt ist wie noch zu Sutters Zeiten. Ausserdem ist dieses Jahr bei keinem EM-Teilnehmer ein YB-Akteur dabei, was die Berner Identifikation nicht einfacher macht.
Hotspot Lorrainestrasse
Unser Rundgang im Nordquartier beim Eröffnungsspiel Deutschland gegen Schottland zeigt jedenfalls, dass das Fussballfieber noch nicht breit ausgebrochen ist. Richtig fündig werden wir dann erstmals immer noch an der Lorrainestrasse, obschon das «Serini» wie erwähnt Geschichte ist. In die Bresche gesprungen sind nun der «Wartsaal» und das von der Gastro-Gruppe Mischbar betriebene Arbeitsinklusionsprojekt «Lorraine22» in der früheren Kultbeiz «Fäuder». Das «inklusive EM Public Viewing» in der namensgebenden Hausnummer 22 umfasst «Drinks und sommerliche Speisen» bei allen Spielen bis zum Final am 14. Juli. Und auch das Partnerlokal «Provisorium46» in der Länggasse zieht mit. Die Spiele werden auf mehreren Bildschirmen draussen und drinnen gezeigt, der Betrieb beginnt jeweils 30 Minuten vor dem ersten Spiel. Wir empfehlen den Hot Dog mit Schalotten, Jalapenos, Röstzwiebeln und Birnel- Senf-Sauce – auch vegan – und eine Tüte Pommes frites. Biere gibt es aus den Häusern Felsenau, Braukunst, Simmentaler, Docteur Gab’s und Lola für die Abstinenten.
Vis-à-vis im «Wartsaal» ist nebst dem Hauptraum mit einem Bildschirm vor allem die überdachte Terrasse mit Grossleinwand ein Hit. Ein schwarzer Sichtschutz unterbindet die am Nachmittag und Vorabend lästige Sonneneinstrahlung und sorgt für Kino-Feeling. Hier kommen Hamburger (Bio-Rindfleisch, Halloumi oder vegan) und ebenfalls Pommes frites auf den Teller. Das Bierangebot reicht von Egger über Burgdorfer-Halbliterflaschen bis zum «Kobra»-Pale Ale von Degenbier aus Zofingen. Wer es ruhiger mag und trotzdem in der Lorraine bleiben will, der setzt sich im Ristorante «Carbonara» an der Quartiergasse in den seitlich gelegenen Garten vor den Bildschirm, bestellt eine Pizza aus dem Holzbackofen und streckt die Beine. Ebenfalls erwähnenswert ist das «Soul Food X» am Viktoriarain, wo alle Abendspiele laufen. Zu essen gibt es dort Hot Dogs und Burger. Je nach vorheriger beruflicher Betätigung in den Grössen «Denker» und «Holzfäller» erhältlich. Dazu schmeckt in jedem Fall ein Bier vom Fass.
Eine Frage der Optik
Im Lauf des Abends merken wir, dass sich bei näherer Betrachtung trotzdem einiges auftut. So entdecken wir beispielsweise einen bemerkenswert grossen Bildschirm im «Tavola Calda » am Breitschplatz. Kenner bestellen hier tschechisches Kozel- oder Staropramen-Bier und eine Pizza des Hauses mit scharfer Salami. In der Kursaal-Bar verfolgen vor allem Touristen das Spiel. Und auch am alleräussersten Zipfel des Nordquartiers entdecken wir schliesslich ein Public Viewing inklusive Tippspiel. Und zwar vom Altenberg herkommend auf dem «Bäre Balkon», dem Pop-up-Betrieb des Alten Tramdepots. Zwar liesse sich streiten, ob es sich dabei nicht eher um eine grosse Terrasse denn um einen Balkon handelt. Doch das Bier ist hier bekanntermassen grandios und das Rätsel verflüchtigt sich rasch. Ein Prost auf den Sommer!