Blickwechsel

Es tut sich was, im Quartier …

Anfang Juli werden in der Markus-Kirche im Rahmen des sogenannten «Blickwechsels» alle Planungen und Bauprojekte vorgestellt, die es im Nordquartier derzeit gibt. Es handelt sich um 20 bis 30 Projekte, grosse und kleine. Benjamin Steffen sprach mit Marco Ryter, dem früheren Architekten und heutigen Präsidenten der Kirchgemeinde Johannes.

Benjamin Steffen
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Im Nordquartier gibt es aktuell eine Vielzahl an Bauprojekten. (Bilder: zVg)

Marco Ryter, im Nordquartier ist baulich vieles in Bewegung, derzeit laufen mehr als ein Dutzend Bauprojekte. Im Rahmen des Experiments «Blickwechsel – Im Dialog mit der Öffentlichkeit des Nordquartiers » wird vom 4. bis zum 6. Juli in der Markuskirche eine Auswahl der Vorhaben vorgestellt. Was ist für Sie ein ideales Bauprojekt?
Es soll neue Bedürfnisse abdecken und eine Win-win-Situation bedeuten. Aber so ist es heute vielleicht zu selten. Ein Bauprojekt hat oft etwas Egoistisches. Es heisst: «Ich will bauen, ich muss bauen.» Und weniger: «Was erwarten die anderen, wenn ich mit etwas komme?»

Was meinen Sie mit den «anderen»?
Die Nachbarn, die Interessen des Quartiers. Darum geht es uns auch bei der dreitägigen Veranstaltung: den Leuten bewusst zu machen, dass sehr vieles passiert – und dass es nicht um einzelne Bausteine geht, die direkt oder indirekt einen Zusammenhang haben. Man darf nicht für einzelne Leute bauen. Es ist ein Netz, das man weiterentwickelt. Man kann nicht in jedem Projekt ein wenig Park, ein wenig Parkieren, ein wenig Strasse machen. Gewisse Kreise müssen etwas hergeben, andere bekommen etwas.

Und weil dieses Bewusstsein fehlt, sind Bauprojekte zu selten eine Win-win-Situation?
Genau. Das Stadtplanungsamt hat durchaus Visionen zur Entwicklung eines Quartiers. Aber die Visionen werden zu wenig abgesprochen mit der Bevölkerung, obwohl die Menschen im Nordquartier eine sehr starke Identität haben, eine starke Aneignung des Quartiers. Viele reden von «unserem Breitsch», von «unserem Quartier», sie sind stolz auf ihre Wohngegend – aber die Vision definieren andere. Man könnte die Vision in Zusammenarbeit mit dem Quartier korrigieren, entwickeln, anpassen. Es wäre ein wichtiger Grundstein.

Ein Grundstein für was?
Für positives Denken. Heute machen Entwicklungen den Leuten Angst.

Zu Unrecht?
Nehmen wir das Thema der Verdichtung. Das Nordquartier ist laut einer ETH-Studie das drittdichteste Quartier der Schweiz, vor allem die Gegend zwischen Kaserne und Breitenrainplatz. Aber gerade dort suchen die Leute Wohnungen, eine Wohnung bleibt nie zwei Wochen leer. Dennoch fürchtet sich fast das ganze Quartier vor der Verdichtung und nimmt zu wenig wahr, dass die Qualität des Quartiers grösstenteils von der Verdichtung lebt.

Wie kommen Sie darauf?
Es gibt Leute, die sagen: Es ist mir zu nahe, ich höre Lärm und die Nachbarn und sowieso. Die Nähe wird quasi als kritische Nähe gesehen. Aber ich nehme gern das Beispiel der italienischen Strasse, wo man von Fenster zu Fenster Wäscheleinen zieht und miteinander redet. Ich finde: Verdichten ist das falsche Wort. Es ist: Zusammenleben. Und Zusammenleben ist ein ganz anderes Bild, ein positives Bild. Wenn man sich gegen eine Entwicklung wehrt, kommt sie gleichwohl, man kann sie nicht beeinflussen. Wer positiv denkt und sich in etwas hineingibt, ist plötzlich Teil davon – Teil des Quartiers, das vorwärtsgeht. Und das negative Denken verschwindet.

Was wäre denn Ihre Vision fürs Nordquartier?
Die Entwicklung der Stadt Bern erfolgte dank mutigen Schritten. Man baute Brücken, und auf der anderen Seite der Brücke entstand ein Quartier. Man baute die Kornhausbrücke – und sobald die Brücke da war, machten die Menschen auf der anderen Seite die nächsten mutigen Schritte und investierten. Heute ist man nicht mehr so mutig. Diesen Mut braucht es wieder. Denn die Bausteine haben wir. Ich nehme ein Beispiel, das mir sehr wichtig ist.

Gerne.
Der Wankdorf-Bahnhof wird totalsaniert, in drei, fünf oder zehn Jahren, jedenfalls wird er eine völlig andere Rolle bekommen. Nebenan entsteht Wankdorfcity 3, die gestapelte Stadt, eine sehr gute Idee, dereinst ein vollwertiges Quartier, aber nach heutigem Stand wird es eine Insel ein. Der Bahnhof böte eine Chance, das Quartier stärker anzubinden. Heute wäre der richtige Moment, mit der Bevölkerung zu überlegen: Was erwarten wir von diesem Bahnhof? Klar, man kann sich darauf verlassen, dass die SBB viel Know-how hat und bestimmt das Richtige tun wird. Aber man kann ebenso gut einen Mehrwert schaffen, indem man die Leute fragt: Was erwartet Ihr künftig vom Quartierbahnhof? Was zeichnet ihn aus?

Es heisst gern, Inputs seien willkommen, Einwohnende sollten an Informationsanlässen und Mitmachwerkstätten teilnehmen. Werden solche Anlässe überschätzt?
Ich behaupte: Wenn man normale Komponenten nimmt, die herkömmliche Art der Mitwirkung mit Flipcharts et cetera – dann kommt nicht viel Überraschendes heraus. Für mich ist der Breitenrain das beste Quartier der Schweiz. Gerade ein solches Quartier würde ich nach den starken Gedanken zum Wankdorf- Bahnhof fragen. Ein Gedanke ist vielleicht derart verrückt, dass man ausgelacht wird – was soll’s? Eben, so entwickelte man früher Stadtteile: mit Mut. Und es braucht Vertrauen. Bauherren sind nur bereit, sich in der Projektentwicklung gehen zu lassen, wenn Vertrauen da ist. Wenn sie wissen: Was ich sage, steht nicht sofort morgen in der Zeitung.

Warum ist der Breitenrain das beste Quartier der Schweiz?
Es gibt sicher 30 Gründe.

Nennen Sie drei davon.
Erstens: Das Quartier ist in zehn Minuten zu Fuss vom Zentrum der Stadt erreichbar - eine Riesenqualität. Zweitens: Andere Berner Quartiere haben so etwas wie einen Stempel, der Breitenrain hingegen ist viel schwieriger zu fassen. Wir haben die ganze soziale Durchmischung. Es hat Platz für jeden, und so spielen plötzlich viele Trümpfe zusammen, damit man sich wohlfühlt, weil man Leben spürt. An einem Sommerabend ist der Breitenrain draussen voller Leute, im Gegensatz zu anderen Quartieren.

Und drittens?
Man hat immer noch ein grosses Netz an Läden: Grossverteiler, drei Apotheken, drei Bäckereien, eine Metzgerei, alles. Und in den nächsten zehn Jahren wird das Quartier einen Zuwachs von mehreren tausend Menschen erfahren. Der Bedarf wird also noch grösser. Metzger und Bäcker haben noch mehr Grund zu bleiben.

Mehrere tausend Menschen werden ins Quartier ziehen?
Davon gehe ich aus, seit wir unsere Veranstaltung für den «Dialog mit der Öffentlichkeit des Nordquartiers » vorbereitet haben. Allein mit den Grossprojekten Wifag, Wankdorffeldstrasse und Wankdorfcity 3 entstehen rund 3000 Wohnungen – und etliche weitere kommen dazu, was Investitionen von rund 2 Milliarden Franken bedeutet.

2 Milliarden in einem so gut wie fertig bebauten Quartier – das ist enorm.
Stimmt. Aber es macht den Menschen weniger Angst, wenn sie sich der Entwicklung bewusst sind und darin eine Chance sehen: dass das Zusammenleben mit mehr Leuten nicht Probleme bringt, sondern reicher macht.

Und diese Erkenntnis erhoffen Sie sich in der Bevölkerung dank dem Dialog mit dem Nordquartier? Dank der Ausstellung der Projekte?
Ja. Aber es ist mehr als eine Ausstellung. Es wäre schade, wenn der Anlass darauf reduziert würde. Sie kennen bestimmt den Spruch von «der Kirche im Dorf».

Ja.
Es ist kein Zufall, dass dieser Dialog in der Markuskirche stattfindet. Sie wird bald saniert, aber wir wollen sie auch entstauben. Die Kirche soll wieder «im Dorf» sein, im Zentrum des Quartierlebens, als Ort der Debatte. Debatte ist etwas Wunderbares, man akzeptiert verschiedene Meinungen und diskutiert miteinander. Nach der Sanierung werden wir ein Bistro haben auf dem Kirchengelände, mit einem acht Meter langen Tisch. Dort sollen sich die Leute treffen, zusammensitzen, unterhalten.

Eng beieinander und die Dichte als Chance sehen?
Genau so …

Interview: Benjamin Steffen


INFO

Marco Ryter, geboren 1954, war bis 2016 jahrelang Partner des Berner Architekturbüros Bauart. Er war in Nidau aufgewachsen, lange Zeit zweisprachig, Französisch und Italienisch. Seit mehreren Jahrzehnten wohnt er in der Stadt Bern, seit rund 15 Jahren im Breitenrain.

Heute ist Ryter unter anderem Präsident des Kirchgemeinderats der Johanneskirche, die bald mit der Markuskirche zu einer reformierten Kirchgemeinde im Nordquartier fusioniert. Die Markuskirche wird für die neue Kirchgemeinde saniert und beherbergt seit Februar als Zwischennutzung das Experiment «Blickwechsel – im Dialog mit der Öffentlichkeit des Nordquartiers ». In diesem Rahmen organisieren Marco Ryter und der langjährige Raumplaner Res Wyss-Oeri Anfang Juli die Präsentation der Bauprojekte im Nordquartier. Es handelt sich um mehr als ein Dutzend kleinere und grössere Projekte mit einem geschätzten Gesamtvolumen von 2 Milliarden Franken. Wer zwischen dem 4. und 6. Juli die Markuskirche besucht, erlebt eine Reise in die Zukunft des Nordquartiers. Am 4. Juli wird im Rahmen des Eröffnungsanlasses zudem Jeanette Beck, die Stadtplanerin von Bern, teilnehmen und den Wandel des Nordquartiers aus stadtplanerischer Sicht beleuchten (18 Uhr 30). Am 5. und 6. Juli stehen die jeweiligen Projektverantwortlichen zwischen 11.00 und 15.00 gerne für Dialog zur Verfügung.

Marco Ryter
Interview-Partner Marco Ryter

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