Feuerwehr Viktoria

Vom Providurium zum Vorzeigeprojekt

2015 begann die Zwischennutzung der alten Feuerwehrkaserne. Knapp zehn Jahre später folgt mit dem geplanten Neubau- und Wohnungsprojekt ein entscheidender Zukunftsschritt.

Text: Jean-Claude Galli, Bilder: Annette Boutellier und zVg
Feuerwehr Viktoria Bern
Bei entsprechenden Temperaturen sitzt sich im Löscher auf draussen gemütlich.

Es ist kurz vor 12 Uhr im «Löscher». Die letzten gemütlichen Kaffeerunden haben sich aufgelöst, die ersten Mittagsgäste stehen unter der Tür. In der Küche ist alles bereit, heute gibt es Bio-Pouletschenkel aus dem Ofen, Bramata und Palmkohl. Das beliebte Restaurant ist ein Empfangsraum für alle Gäste und eine Visitenkarte für die gesamte Zwischennutzung an der Adresse Viktoria- und Gotthelfstrasse. Die «Feuerwehr Viktoria» ist ein fixer Bestandteil der Kulturstadt Bern. Eine einmalige Mischung aus urbaner, kommerzferner Gemütlichkeit, kreativer Improvisation und einer Prise Überraschung, immer auf dem Sprung ins unbekannte Neuland. Dass der «Löscher» und die gesamte Zwischennutzung schon bald 10 Jahre bestehen, ist angesichts der ständigen Bewegung in all den Räumen kaum vorstellbar. Ebenso wenig wie ein plötzliches Verschwinden – und das wird auch nicht passieren. Antreiber und Überlebenshilfe für die «Feuerwehr Viktoria» war immer die stetige Bewegung. Und diese geht 2024 spür- und sichtbar weiter, angefangen beim «Löscher». Ende Juni schliesst das Restaurant für drei Monate, wird inklusive neuer Küche komplett saniert und öffnet (Anfangs) Oktober wieder. Fortan werden auch Veranstaltungen mit bis zu 120 Personen möglich sein, doch der Quartierbeiz- Charme geht nicht verloren. Und die beiden anderen Betriebe «Bern Unverpackt» und das «Pf lanzenbrocki» kommen nach einer Zwischenlösung im Innenhof zurück in die alte Fahrzeughalle. Die neue «Löscher»-Küche ist aber nur ein kleiner Teil der geplanten Veränderungen. Die grösste «Kiste» ist das schon länger angedachte Neubauprojekt rund um den Saalbau, das nun in die entscheidende Phase tritt. «Diesen Frühling erfolgt dafür die Baueingabe », erzählt Geschäftsleiterin Agnes Hofmann dem «Anzeiger für das Nordquartier». Herzstück der Pläne ist das gemeinnützige Wohnbauprojekt. Was 2014 mit dem Auszug der Feuerwehr nach 78 Betriebsjahren und 2015 mit dem eigentlichen Start der Zwischennutzung begann – seit damals ist auch der «Löscher » in Betrieb –, wird damit auf ein neues Level gebracht. Ein nächster Schritt auf dem ereignisreichen Weg von der Zwischen- zur Umnutzung, vom Providurium zum beispielhaften Vorzeigeprojekt auch für andere Städte.

Ende 2024 gibt es Bewegung

2022 gewann das Projekt «Victoria & Albert» der Bieler Arbeitsgemeinschaft «Verve Architekten» und «:mlzd» den ausgeschriebenen Architekturwettbewerb, angelehnt ans weltberühmte «Victoria and Albert Museum» in London. Ende August 2023 übernahm die Genossenschaft den Arealteil für die Neubauten von der Stadt respektive der Stiftung Edith Maryon im Unterbaurecht. Alle betroffenen Nachbarinnen und Nachbarn stimmten einer Verschiebung des Saalbaus zu. «Läuft terminlich alles nach Plan, beginnt Ende 2024 die Verschiebung des Saalbaus ‹Victoria› von der Gotthelfstrasse in den Innenhof», erklärt die Bauherrenvertreterin und Architektin der Genossenschaft, Eva Diem. So entsteht Raum für den Neubau «Albert», der neben den künftigen Wohnungen die Tagesbetreuung des Schulhauses Spitalacker umfasst. Die Verschiebung und damit verbunden der Erhalt der Bausubstanz erzeugen beträchtliche Effekte: Bis zu 70 Tonnen CO2 werden eingespart und Tonnen von Bauabfall vermieden.

Damit wird umgesetzt, was das Stadtberner Stimmvolk bereits 2008 mit dem neuen Zonenplan guthiess (zur genauen Chronik siehe Box). Die geschützten Altbauten bleiben bestehen und im Neubau entstehen mindestens 45 Prozent Wohnnutzung. Geplant sind «attraktive urbane Wohnformen für ein generationenübergreifendes, sozial durchmischtes, integratives, kollektives und selbstbestimmtes Wohnen zu zahlbaren Konditionen», wie es auf der Genossenschafts- Website heisst. «Das Wohnbauprojekt versteht sich explizit als integraler Teil der Gesamtnutzung, weshalb wir den Fokus auf das Teilen und gemeinsame Nutzen von Innenund Aussenräumen legen. Eine gemeinschaftliche Infrastruktur in Synergie mit den bereits gewerblichen und kulturell genutzten Räumen ist das Ziel.»

Im Frühling ist das nächste Informationstreffen zum Neubauprojekt mit der erweiterten Nachbarschaft und offen für alle BewohnerInnen des Nordquartiers geplant. Dies auch, um Skepsis und Ängste im Hinblick auf den Neubau, die Sanierung und die zwangsläufigen Lärmemissionen kleinzuhalten und Einsprachen möglichst vermeiden zu können. Denn was von aussen gesehen attraktiv, spannend und lebendig wirkt, ist immer auch das Resultat von Diskussionen verschiedener Lager und Interessengruppen innerhalb der Einrichtung und in dessen unmittelbarem Umfeld. Widerstände und Dispute kommen hier umso mehr vor und sind einkalkuliert, weil das Prinzip jeder Zwischennutzung im Kern basisdemokratisch ist. Erhellende Einblicke liefert diesbezüglich nicht nur das 2021 im Verlag Lokwort erschienene Buch über die «Feuerwehr Viktoria ». Eine schon länger hier wohnhafte Nachbarin berichtet darin von ihren Gefühlen angesichts eines Flyers, den sie 2014 in ihrem Brief kasten fand: «Er bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Das gibt eine zweite Reitschule», war sie überzeugt. Es gab auch zwei Einsprachen gegen die damalige Kollektivunterkunft für gef lüchtete Menschen und die Zwischennutzung. Die Nachbarin lobt im Buch aber auch die stete «Offenheit und die Bemühungen» der Verantwortlichen. Und zeigt sich schliesslich mit den aktuellen Zuständen versöhnt: «Wir haben uns auch ein bisschen an das bunte Treiben gewöhnt.»

Eine kleine Zeitreise

Tatsächlich ist es «vom Blaulicht zum Multikulti », wie es im Buch heisst, ein grosser Sprung. Nötig ist eine laufende Konsensfindung. Die sanfte Sanierung der Altbauten hat bereits im Sommer 2023 begonnen. Das Baugesuch betrifft nur die neu entstehenden Bauten und den Saalbau, der von 1950 stammt. Keinesfalls berührt wird der ikonische Turm, der zur Originalbausubstanz gehört und unter Denkmalschutz steht. 1,125 Mio. Franken kostete der 1936 eingeweihte Bau nach Plänen von Hans Weiss. Von ihm stammte auch das Kino Capitol in der Kramgasse oder das Meerhaus an der Effingerstrasse. Das Feuerwehr-Gebäude markierte den Höhepunkt der Berner Moderne und galt damals als fortschrittlichstes Feuerwehrgebäude der Schweiz. Es war das Resultat einer Katastrophe. 1931 brannten die zwei oberen Stockwerke der Firma Wander. Die Feuerwehr wurde danach als zu wenig professionell kritisiert und der Ruf nach einer zeitgemässen Kaserne laut. Der Turm diente ursprünglich als Beobachtungsstand zur Branderkennung.

Heute sind auch im Turm Betriebe untergebracht, so die Kreativagentur «Hella Studio». Die schon erwähnte, in Basel domizilierte Edith-Maryon- Stiftung, benannt nach einer englischen Architektin aus dem Wirkungskreis von Rudolf Steiner, gibt die Richtung der Mieter unter der Prämisse Kreislaufwirtschaft und nachhaltiges Arbeiten vor. Die Stiftung fördert mit ihrer Tochterfirma equimo AG den sozialen Wohnungsbau, 2019 übernahm sie die «Feuerwehr Viktoria» im Baurecht. Ziel der Stiftung ist es grundsätzlich, Boden und Liegenschaften der Spekulation zu entziehen, günstigen Wohn- und Gewerberaum sicherzustellen und soziale und kulturelle Projekte zu fördern. Basel ist der eigentliche Geburtsort von Zwischennutzungen in der Schweiz. Die allererste vertraglich geregelte namens «Raumschiff Schlotterbeck» auf einem riesigen Garagenareal datiert vom Oktober 1990. Für passende Interessenten stehen in der «Feuerwehr Viktoria» auf fünf Stockwerken knapp 80 Räume mit insgesamt über 4000 Quadratmetern zur Verfügung. Rund 30 Betriebe und Projekte sind zurzeit angesiedelt. «Wir haben sehr wenige Mieterwechsel. Und die Firmen und Einzelpersonen müssen zur Kultur und den Grundgedanken der Genossenschaft passen, wenn sie bei uns einziehen möchten. Damit können wir vermeiden, dass jemand rasch das Handtuch wirft und wir ständig Ein- und Auszüge haben.» Der Zuspruch ist gross. «Aktuell sind keine Räume verfügbar», heisst es auf der Website lapidar. Wechsel gibt es natürlich trotzdem. Diese sind manchmal dem steigenden Erfolg der Unternehmen und einem grösseren Platzbedarf geschuldet. Beispiele dafür sind «Peppes Ingwerer» und die Kaffeerösterei «Adrianos», die seit 2015 dabei waren und mittlerweile an den Zentweg respektive in den Bernapark Deisswil gezogen sind. Auf der Suche nach einem neuen Standort ist aktuell die Zirkusschule, für die es nach dem Wegfall des Saalbaus leider keinen passenden Platz mehr geben wird.

Die «Feuerwehr Viktoria» als Glücksfall

Die auf dem Areal gelebte Vielfalt ist einzigartig wie das ganze Projekt selber. Nebst dem schon angesprochenen «Pflanzenbrocki» und «Bern Unverpackt» oder Kreativagenturen wie «Hella Studio» und «Büro F» reicht die Bandbreite von der «Boxschule Viktoria» über ein Pilates- und Keramikatelier und das Velogeschäft «TacTac Cycling » bis hin zur Bäckerei «Copain Artisan Boulanger » und der Weberei «Verwobenes». «Das Weben und die Viktoria könnten Zwillinge sein. In einem sehr alten Gebäude, dem Webstuhl, tummeln sich unterschiedlichste ‹Fäden›, Freigeister, Künstlerinnen, Ideensprudler. Im Zusammenspiel sorgen sie für den unvergleichlichen Charme hier an der Viktoriastrasse», beschreibt es Inhaberin Barbara Speck im Buch. Von der «Feuerwehr Viktoria» aus sind auch bekannte Kulturinstitutionen mit internationalem Ruf wie das Theaterfestival «Auawirleben» und «Norient Performing Music Research» tätig. Und zentral für das Anliegen der Kreislaufwirtschaft und das gelebte Miteinander sind Einrichtungen wie das «Repair Café Bern», die «Leihbar» oder die «Quartierwerkstatt Viktoria».

Für die Verantwortlichen der Stadt ist die «Feuerwehr Viktoria» ein Glücksfall in mehrfacher Hinsicht, der auch dem eigenen Image zugutekommt. Ein kleiner Seitenhieb sei in diesem Zusammenhang erlaubt: Auch auf dem Areal des ehemaligen Tramdepots Burgernziel existierte ab 1997 eine Zwischennutzung. Schliesslich musste das «Punto » 2019 einer Überbauung mit 100 Wohnungen samt Grossverteiler-Filiale und kommerziell ausgerichteten Ladenlokalen weichen, über deren architektonisches Gesamtbild unter dem Stichwort «Fleischkäse» nicht nur Schmeichelhaftes zu hören ist.

Bevor die Bagger anfahren und der «Löscher» dichtmacht, wird allerdings am 15. Juni noch gross gefeiert. Die letzten grossen «Viktoria-Feste» datieren von 2018 und 2017. Damals gaben «Züri West» ein vielumjubeltes Überraschungskonzert. Dazu kommt es 2024 sicher nicht. Sänger Kuno Lauener hat Live-Auftritte jüngst im Zusammenhang mit dem neuen Album «Loch dür Zyt» aus gesundheitlichen Gründen ausgeschlossen. Doch ein kleiner Teil der Band lebt auch im Gebäudekomplex und den Menschen weiter, die es mit Leben füllen. Tom Etter, Gitarrist zwischen 2000 und 2017, kümmert sich mit seinem Geschäft «Better Guitars» um den Wohlklang. Und Band-Gründungsmitglied Küse Fehlmann ist seit Beginn Co-Präsident der Genossenschaft. Damit die «Feuerwehr Viktoria» dem «Blues immer a haube Schritt voruus» bleibt.


Info

Im ersten Quartal 2024 ist eine Infoveranstaltung für die Anwohnenden angedacht. Das Datum, das noch offen ist, wird, sobald terminiert, bekanntgegeben.

Die Chronik
www.feuerwehrviktoria.ch/chronik

Die Betriebe
www.feuerwehrviktoria.ch/betriebe

Das Buch
www.feuerwehrviktoria.ch/buch

Mitmachen
www.feuerwehrviktoria.ch/genossenschaft


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