Andreas Abebe

«Die Gesellschaft muss von den Frauen lernen» (Teil 1)

Andreas Abebe schlug für das Gespräch einen Ort vor, an dem der kirchliche Wandel sicht- und greifbar ist: die Markuskirche. Das Gestühl ist weg. Putzequipen sind am Werk und irgendwann stellen sich Gruppen von Studierenden einer Fachhochschule ein, um unter der hohen Kuppel ihr Mittagessen zu sich nehmen. Das ist eben «Kirche neu gedacht».

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
Andreas Abebe
Andreas Abebe. (Bild: zVg)

Fangen wir doch mit meiner Funktion an. Ihretwegen kennen die Leute mich. Seit zwanzig Jahren bin ich Pfarrer in der Markuskirche. Sie ist «meine» Kirche, hier bin ich zuhause, im Rahmen meiner Arbeit habe ich unzählige Menschen und Institutionen und ihre Themen kennengelernt. Menschenthemen und Kirchenthemen. Ich habe das Quartier liebgewonnen, mir ist wohl hier. Vielleicht ist es mein Schicksal, dass ich hier gelandet bin. Was Schicksal heisst? «Ergriffener Zufall». Eine Situation annehmen im Wechselspiel zwischen dem, was ich beitrage, und dem, was an mich herangetragen wird.

Seit meinen Studienjahren, seit ich bei meiner späteren Frau und jetzigen Ex-Frau am Turnweg einzog, lebe ich im Nordquartier. Noch während meines Studiums der Theologie und Soziologie bekamen wir unser erstes Kind. Wir sozialisierten uns auch als Familie im Quartier. Schule, Spili Schützenweg, wo ich einen Teil des Zivildienstes machte. Meine Bekanntund Freundschaften entstanden also im Quartier, schon bevor ich Pfarrer war. Als in der Markuskirche eine Stellvertretung gesucht wurde, erhielt ich eine Anfrage und sagte zu. Aus der Stellvertretung wurde dann das, was jetzt ist. Heute arbeite ich neunzig Prozent als Pfarrer, früher immer paritätisch geteilt mit meiner Frau: Wir teilten alles fünfzig-fünfzig, wir waren ja in der gleichen Lohnklasse, es war also kein Problem. Mein Sohn ist heute Geograf und arbeitet für «public eye». Meine Tochter studiert Sozialarbeit.

Es kam vor, dass noch nach Jahren Leute mich zwar kannten, aber nicht wussten, dass ich der Pfarrer bin. Ich schätzte das. Ich konnte mich freier bewegen und hatte keinen Stempel auf der Stirn. Der Pfarrer war ich je nach Situation. Wenn es wichtig war.

Mein Vater stammte aus Äthiopien und brachte auch den Namen hierher. Er war in der französischen Schule in Addis Abeba gewesen und kam via Beirut und Paris nach Genf und Lausanne. Als Assistenzarzt arbeitete er unter anderem im Spital Moutier, wo meine Mutter auszubildende Krankenschwester war, wie das damals noch hiess. Noch unverheiratet gingen beide zusammen nach französisch Kanada zum Arbeiten, von wo sie mich heim in die Schweiz brachten. Ich wurde 1969 geboren und Kanadier – obwohl ich nur zwei Wochen in Kanada lebte. Mutter war Schweizerin und Vater Äthiopier. Sie hatten in Montreal geheiratet.

Zurück in der Schweiz lebten wir zuerst bei den Grosseltern, dann in Morges und Le Sentier, wo Vater im Spital arbeitete und Mutter zu mir schaute. Danach zogen wir nach Grenchen, wo es auch ein Spital gibt – gab! Ich war vier, als meine Schwester auf die Welt kam. Sie wurde Äthiopierin. So war das damals in der Schweiz. Ich sah nicht wie ein Schweizer aus, war aber auch nicht Italiener oder Spanier. Man konnte mich nicht einordnen, ich mich selber auch nicht. Das war einfach so – heute spricht man von Rassismus. Er wird an einen herangetragen, nagt an einem.

Vater war zwar ein beliebter Arzt, aber ausserhalb des Spitals erlebte er deutlicher als ich Rassismus. Er erhielt keine Wohnung, Mutter musste Angelegenheiten wie die Wohnungssuche übernehmen. Es waren die siebziger Jahre mit der Schwarzenbach-Initiative. In mir selber lagen Schwarz und Weiss manchmal im Widerstreit und Identitätsfragen sind heute noch wichtig: Wer bin ich? In Äthiopien hatte es eine brutale kommunistische Revolution gegeben. Vater als Angehöriger der Oberschicht konnte nicht zurück nach Hause. Seine Zwillingsschwester und die Grossmutter besuchten uns, aber das war immer sehr kompliziert, mit teuren Bürgschaften und grossem Büro. Für Mutter war es traumatisch und ich konnte zur Grossmutter keine richtige Beziehung aufbauen. Bis heute war ich nie in Äthiopien.

Reden gehört ja zu meinem Beruf und ich konnte es glaub schon als Kind gut. Mich einbringen, mitbestimmen. Auch Empathie ist ein Teil meines Berufes und zeichnete mich schon als Kind aus. Ich konnte mich gut positionieren und war beliebt.

Meinen Eltern ging es weniger gut. Isoliert, wie interkulturelle Paare es damals waren, ohne Hilfestellung. Sie trennten sich. Wir Kinder zogen mit der Mutter nach Solothurn, wo ihr neuer Freund wohnte. Mein Vater verkraftete die Situation nicht und nahm sich das Leben.

Ich war neun, als wir nach Solothurn zogen. Wir verkehrten bei den Methodisten, wo Mutter als Predigerstochter einen Heimatboden hatte, der gut funktionierte und der uns trug in der schwierigen Zeit.

Auch hier war ich in der Schule problemlos integriert, ein pf legeleichter und guter Schüler, ohne Streberallüren. Ich kam immer schlank durch. Und ging dann in Solothurn in die Kanti.

Ein Grundgefühl aus jener Zeit: zwei Welten, die sich teilweise in die Quere kamen. Einerseits die methodistische, andererseits die eher intellektuelle in der Schule.

Zwar bef lügelte mich das Jungscharleben als Kind und Leiter, kritisches Denken ist aber innerhalb der Freikirchen nicht unbedingt üblich – Antworten auf meine Fragen suchte ich schliesslich im Theologiestudium. Ich wollte mit der Bibel angemessen umgehen können, wollte düredänke, nicht einfach glauben. Der Pfarrerberuf war damals nicht auf dem Radar.

Vor den Bologna-Hochschulreformen konntest du studieren, solange du wolltest, und studieren war bezahlbar. Ich lernte gute Leute kennen, war auch an Nebenfächern interessiert, die nicht obligatorisch waren: Philosophie, Musikwissenschaften, schliesslich Soziologie. Diese hatte einen Bezug zur Realität. Sie war konkret und differenziert und wurde ein gutes Handwerkszeug, um mein eigenes, doch auch kompliziertes Leben besser zu verstehen. Die Soziologie schärf te zudem mein Verständnis der Theologie massgeblich. Wozu dient sie eigentlich? Und wem? Die Soziologie durchleuchtete theoretisch, was die Theologie so trieb.

Als unser Sohn auf die Welt kam, drängte die Zeit und es musste ein Abschluss her: Ich entschied mich für die Theologie. Für beide Fächer fehlten die Zeit und die Kapazität. Pfarrer zu werden war das Naheliegendste. Über verschiedene Stationen als Stellvertreter landete ich – wie beschrieben – im Nordquartier, wo ich ja bereits wohnte.


Das ist der erste Teil des Quartier- Chopf mit Andreas Abebe. Der zweite folgt in der kommenden Ausgabe.


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