Eisenbahnviadukt Lorraine

«… als wäre ich eine Besonderheit»

Sie ist hässlich. Und schön. Wer aus Nord, Ost oder Südost mit den ÖV in die Hauptstadt reisen oder diese in ebendiese Richtungen verlassen will, kommt nicht an ihr vorbei. An der Eisenbahnbrücke, auf der die Züge Fahrt verlieren oder gewinnen.

Katrin Bärtschi
Eisenbahnviadukt Lorraine
Fotomontage Eisenbahnbrücke: Wie es ist und wie es sein könnte. Bild: Archiv VLL

Ich bin massig, massiv und scheint’s 1092 Meter lang. Tonnagen und Tonnagen von Beton wurden angerührt und in die Schalungen gegossen, bevor ich 1941 wurde, was ich bin: die Lorraine-Eisenbahnbrücke.

Meine Vorgängerin war die legendäre rote Brücke. Von ihr weiss ich nur, weil immer wieder Leute unter mir stehen bleiben, meine Wucht bestaunen und von früher reden. Vor allem in meinen Anfangsjahren war es so. In jüngerer Zeit zitierte einmal jemand aus einer Quelle, die sie Wikipedia nennen, ein paar Sätze, die mir in Erinnerung geblieben sind. Was mag meine alte Schwester wohl alles erlebt haben! «Die Brücke war eine Eisenbrücke, welche von zwei starken Steinpfeilern getragen wurde. Oben befanden sich zwei Gleise und darunter eine Fahrbahn für Fussgänger und Fuhrwerke. Diese Fahrbahn war seitlich durch eine Gitterkonstruktion eingeschlossen und gegen die darüber führenden Bahnschienen war sie zum Schutz vor herunterfallender Kohle vollständig bedielt.» Den Namen «rote Brücke» habe das Volk ihr gegeben, weil sie zum Schutz vor Korrosion mit roter Rostschutzfarbe angestrichen war. Ich bin nicht aus Eisen, ich trage nur Eisen in mir, das mich armiert. Sonst bin ich ganz aus Beton. Manche Menschen mögen keinen Beton, sie schimpfen, während sie unter mir durchgehen, wie hässlich ich sei. Ich finde mein Grauweiss und das Material, aus dem ich gemacht bin, auch nicht besonders schön. Da stellt meine Schwester, die Lorrainebrücke – zwar auch aus Beton, aber mit Sandstein abgeschlossen und geschmückt –, schon etwas ganz anderes dar. Aber ich bin eben, wie ich bin. Und nur so kann ich dem Zweck dienen, zu dem ich entworfen und gebaut wurde. Zum Glück führe ich über ein wildes Quartier, in dem nicht alles nach Norm geschieht, in dem legal-illegal manchmal scheissegal ist. Und so kommen in der Dunkelheit die Nachtmädchen und Nachtbuben mit ihren Farbdosen und malen Parolen an meine Pfeiler, Bilder oder puren und unverständlichen Unsinn. Für das alles stelle ich meine Flächen gern zur Verfügung, ich komme mir bunt und lebendig vor, wenn sie sich an mir ausgetobt haben. Andere kleben Plakate an meine Wände. Die sind dort vor dem Wetter geschützt und bleiben länger schön. Wenn nicht jemand sie wegreisst. Ich staune manchmal, was die Leute so alles tun. Konzerte, Theater, Literatur, Kunst. Denen kommt schon noch anderes in den Sinn als geregelte Arbeit gegen Lohn. Das gefällt mir.

Meine Gedanken kann ich mit niemandem teilen. Wer hört mir schon zu, mir, einer mächtigen Konstruktion, die da so in der Landschaft steht. Hingegossen für alle Ewigkeit. Oder doch für lange Zeit. Einmal, so hörte ich Leute reden, gab es Pläne für eine – oder sogar zwei? – kleine Schwestern, die Seite an Seite mit mir die Aare überbrücken sollten und helfen, den zunehmenden Verkehr zu bewältigen. Eigentlich freute ich mich auf die Gesellschaft. Aber dann wurde die Idee wohl fallengelassen. Der Aarehang sei zu lebendig. Ihm seien keine weiteren Riesenbauwerke zumutbar. Wer wisse, ob er halten würde. Auch wären Häuser wegen des Baus abgerissen worden, eine Absicht, die in der Bevölkerung viel Widerstand auslöste. So stehe ich nun immer noch alleine da. In den Garten unter mir immerhin ist neues Leben eingekehrt. Der alte Italiener, Miggu genannt, zügelte schon vor langem weg von der Jurastrasse, wo er mit Giovanna, seiner Frau, und den Töchtern wohl sein halbes Leben verbracht hatte. Er hatte ein unter mir brachliegendes Stück Land über lange Zeit als Garten bewirtschaftet. Und Kaninchen und Hühner gehalten. Wobei so wichtig wie das Ernten der Gemüse die Feierabende waren. «Chli brägle mit de Giele.» Und dazu Bier und Wein. Ich mochte diese Zusammenkünfte, hörte zu und staunte. Als Miggu weg war, lag der Platz eine Weile kaum benutzt da, bis eine «Gartengruppe» ihn unter die Fittiche nahm. Bodenproben ergaben allerdings, dass die Erde verseucht war von all dem Eisenabrieb und was so eine Eisenbahnlinie sonst noch an Dreck abwirft und vor allem abwarf. Davon wussten auch die Bewohnerinnen des schiefen Hauses Talweg 13 manches Liedlein zu singen. Ich erinnere mich gut, das war vor der Zeit der modernen Züge, die vergleichsweise lautlos durch die Gegend rauschen. Das Rollmaterial machte Lärm und vor den Fenstern des Häuschens schwebte nicht selten Klosettpapier sanft dem Boden zu. Aber ich weiss, dass die Frauen den Wohnort in meinem Schatten trotzdem liebten. Und auch die Leute, die heute darin wohnen, sind schon lange dort. Doch zurück zum Garten: Die Stadt war bereit, den Boden abzutragen, neuen herbeizuschaffen und so das Landstück den Hobbygärtnerinnen und -gärtnern zur Verfügung zu stellen. Diese sehen sich nicht als geschlossenen Verein, weitere Interessierte sind willkommen. Das betonen sie immer wieder. Und auf ein Leintuch schrieben sie «refugees welcome», was scheint’s heisst, dass auch Fremde willkommen seien. Ich stand und stehe da in Regen, Wind und Sturm und bei Sonnenschein. Höre zu und versuche zu verstehen. Was mir immer besser gelingt, das darf ich wohl sagen. Der neue Garten wirft nun schönes Gemüse, Beeren und Kräuter ab.

Ein paar Worte noch zu meiner Schwester, der Lorrainebrücke. Scheint’s gab es auf dem Fahrweg unter den Geleisen auf der roten Brücke immer wieder Unfälle, «weil die Pferde wegen der über sie hinweg dampfenden Züge scheuten». Deshalb sollte eine neue Brücke, die von 1928–1930 gebaut wurde, diesen «Fahrweg» ersetzen. Ende der vierziger Jahre sei die Neue einmal fast eingestürzt, hörte ich sagen, aber sie wurde geflickt und steht wieder und immer noch! Mit ihrem runden Bogen, unter dem die Leute im Sommer durchschwimmen. Wie unter mir auch. Aber ob sie mich so mögen und bewundern wie sie?

Kürzlich – ich dachte so über diese Dinge nach – setzte sich unter mir eine auf einen Randstein und blieb dort die längste Zeit, eine kleine Schreibmaschine auf den Knien. Der Regen prasselte auf die Strasse und ein kalter Wind umflatterte meine Pfeiler. Sie war am Schärme, natürlich, und haute in die Tasten. Dann machte sie wieder Pause und schaute an mir hoch, als wäre ich eine Besonderheit. Was die wohl da machte? Ob sie etwas über mich schrieb? Immer wieder schaute sie so komisch. – Ach, hätte sie meine Gedanken erraten!

Erraten und aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

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